Jugendbuch | Nicola Yoon: Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt
Ein Leben in einem weißen Zimmer, Kontakt nach draußen nur über den Computer, nie ändert sich etwas, denn es darf sich nichts ändern. Das ist das Leben von Madeline. Von ANDREA WANNER
Madeline leidet an einer angeborenen schweren Störung des Immunsystems, jeder Kontakt mit Stoffen, auf die sie allergisch reagiert, kann lebensgefährlich für sie werden. Und worauf sie allergisch reagiert – ein Putzmittel, etwas Essbares, ein Parfüm – weiß niemand. Deshalb lebt sie total isoliert, in einer quasi keimfreien Welt, die nur durch eine Schleuse betreten werden darf. Eigentlich gibt es nur zwei Menschen in dieser Welt: ihre Krankenschwester Karla, die sich den ganzen Tag über um sie kümmert, und ihre Mutter, die Ärztin Dr. Pauline Whittier, die tagsüber ihrem Beruf nachgeht, ansonsten nur für ihre Tochter da ist. Madeline kennt es nicht anders. Sie hat sich arrangiert, das Leben findet ohne sie statt, nur gelegentlich träumt sie sich in Situationen, die für andere Teenager normal sind. Madeline ist 18 und steckt voller unerfüllter Sehnsüchte und Wünsche, die sie sich nicht einmal selbst einzugestehen wagt.
Und dann zieht eine Familie ins Nachbarhaus und alles ändert sich. Denn das Fenster gegenüber ihrem eigenen gibt den Blick auf einen äußerst attraktiven Jungen frei, Olly.
Der Debütroman der aus Jamaica stammenden und in den USA lebenden Autorin Nicola Yoon ist unter dem Titel ›Everything, Everything‹ vor einem Monat erschienen und hat sofort Platz eins der Bestseller-Liste der ›New York Times‹ erobert. Geschickt inszeniert sie ein Kammerstück mit einer Heldin in Isolation und lässt diese die Ereignisse in tagebuchähnlicher Form notieren. Die Aufmachung ist hübsch, die Illustrationen stammen von Yoons Ehemann, und der Text genießt Freiräume auf den Seiten, die Maddy nicht hat. Mit Olly werden die Wünsche nach einem anderen Leben plötzlich übermächtig, wichtiger noch: Maddys Gedanken kreisen nur noch um ihn, die ersten Mailkontakte verlangen nach mehr, nach direkter Begegnung, nach Berührung. Sehr spät erst – mit 18 Jahren – kommt es zu Konflikten mit der Mutter, kann diese nicht mehr den Mittelpunkt des Lebens bieten, wie es jahrelang, ein Leben lang, war. Das albtraumhafte, Bedrückende an dieser pathologischen Beziehung kommt in den Blick. Und gleichzeitig ist das Verlieben in den Nachbarsjungen mit Vernunft nicht aufzuhalten. Seite um Seite wächst der Konflikt.
Dann steht Maddy vor der Alternative: ein Leben ohne Risiko, das in ihren Augen nicht mehr viel wert ist – oder das Wagnis, das sie ihr Leben kosten kann. Sie trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Manches an Maddys Geschichte ist vorhersehbar, ganz ohne Kitsch geht es nicht und manche Dinge wie den Handstand, den sie ungeübt tatsächlich hinbekommt, sind wenig überzeugend. Als Liebesgeschichte lebt sie von dem altbekannten Sie-konnten-zusammen-nicht-kommen-Motiv, was den Reiz einer Annäherung ausmacht, die auf dem Pausenhof der Highschool schlicht banal wäre. So fasziniert sie, bewegt dieses Schicksal, zunächst die Ergebenheit, dann die Rebellion, die gleichzeitig auch eine Rebellion gegen die Mutter ist. Von den vier Figuren, die eine entscheidende Rolle spielen, ist die Mutter die rätselhafteste. Und letztlich auch die Tragischste.
Titelangaben
Nicola Yoon: Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt
(Everything, Everything, 2015)
Aus dem Amerikanischen von Simone Wiemken
Hamburg: Dressler 2015
336 Seiten, 16,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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