Schwarzfüßler und Beurs

Gesellschaft | Frankreich

Dem Wanderer zwischen zwei Kulturen fällt bei seinen häufigen Grenzüberschreitungen nach rechts des Rheins bzw. innerhalb von Gesprächen immer wieder auf, wie fragend Deutsche selbst in unmittelbarer Nachbarschaft auf Begriffe wie ›Pieds-noirs‹ oder ›Beurs‹ reagieren, genauer, ihnen diese in letzter Zeit häufiger auch in deutschsprachigen Medien auftauchenden Wörter nahezu ausnahmslos nicht bekannt sind. Von DIDIER CALME

459px-Robert_Delaunay_La_Tour_Eiffel_et_la_Roue_1910-1913In der Regel bedarf es nicht nur der Übersetzung, sondern der genauen Erläuterung der Bedeutungen, der Hintergründe, will ein Gespräch über die jüngsten Ereignisse in Paris in Gang gehalten werden, deren aktuellen politischen Auswirkungen mittlerweile im ganzen Land deutlich zu spüren sind, seien es die massiven Grenzkontrollen, überhaupt der unübersehbare Einsatz von Polizei und Armee oder, am Rande, beispielsweise die Umbildung des Zentrums von Strasbourg, des auch von Deutschen überaus frequentierten Weihnachtsmarkts, ›le marché de Noël‹, in eine Sicherheitszone. In Frankreich herrscht der Ausnahmezustand.

Frankreich ist also in letzter Zeit in aller Munde und Auge. Das war bis vor den schrecklichen Ereignissen in jüngster Zeit nicht unbedingt der Fall. Sogar nach den im Januar des Jahres geschehenen Morden an den Redaktionsmitgliedern der Satirezeitschrift ›Charlie Hebdo‹(1) wurde es relativ rasch wieder ruhig im Land, auch innerhalb der internationalen sogenannten sozialen Medien, allen voran Facebook, ebbte die bildhafte Solidaritätskundgebung titels ›Je suis Charlie‹ bald ab.

Um die Geschehnisse jüngster Zeit einigermaßen zu verdeutlichen, muss zunächst auf ältere zurückgegriffen werden. Im Vordergrund steht der einst mit oder durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle erfolgte Beschluss, aus Erbfeinden hätten fortan Erzfreunde zu werden(2), die einstige, zumindest teilweise stattfindende Euphorie hatte sich im Lauf der Jahrzehnte derart gelegt, dass in verschiedenen deutschen Bundesländern mittlerweile sogar der Französisch-Unterricht in die allerhinterste Schublade des curricularen Systems geschoben oder gar völlig abgeschafft wurde.(3)

Mittlerweile steht Frankreich im Zentrum Europas, wenn nicht gar der Welt, und eine Sturmflut an Berichterstattungen und Meinungsäußerungen ergießt sich über die Informationsgesellschaft. Allüberall ist man auf der Suche nach den Ursachen, und dabei rücken immer wieder in den Vordergrund die tristen Vorstädte Frankreichs, die Banlieues, diese Randbebauungen, mit denen in nahezu jeder mittleren Stadt versucht wurde, der Wohnraumnot bzw. der Zuwanderung Herr zu werden. Dorthin, an den Rand abgeschoben wurde der größte Teil der aus Nordafrika, aus Algerien, Marokko und Tunesien, aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs Abstammenden. Immer wieder kam es in den letzten Jahren landesweit innerhalb der Vorstädte zu erheblichen Unruhen, die den einstmaligen Innenminister und späteren Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, selbst Sproß einer aus Ungarn stammenden Einwandererfamilie, 2005 entrüstet ausrufen ließ: »nettoyer au karcher«.(4)

Abb: Ville de Vélizy
Abb: Ville de Vélizy
Die Begriffe Pieds-noirs und Beurs stehen also im Zusammenhang mit den Vorstädten, den Banlieues, die seit Jahrzehnten überall im Land wuchern und in denen der größte Teil der gesellschaftlichen Verlierer, der Ausgegrenzten lebt. Es handelt sich, vereinfacht ausgedrückt, zum einen um die ältere Generation der aus Nordafrika Eingewanderten oder, genaugenommen, teilweise Zurückgekehrten, und zum anderen um die nachgerückte, die jüngere Generation, die bereits in Frankreich geboren ist. Beur ist zwar ein häufig abwertend gemeinter Begriff(5), doch untereinander nennen sie sich selbst so.(6) Sie sind zum Teil diejenigen, die in diesem politisch-radikalen, fernab jeder Religion angesiedelten Islam Zuflucht suchen; er scheint den gesellschaftlich Ausgestoßenen Heimat zu bieten. Doch längst liegt diese Banlieue mittendrin in der Metropole. Über das 11. Arrondissement von Paris, der Umgebung der Place de la Bastille, in die seit den achtziger Jahren verstärkt viele Menschen gezogen sind, denen die Mieten in anderen Bezirken zu teuer geworden waren und aus dem sich ein ungemein lebhaftes Vergnügungsviertel entwickelt hat, schrieb kürzlich Daniel Ryser in der schweizerischen Wochenzeitung (WoZ):

»Das ist es, was die jungen Leute im 11. Bezirk [um die Place de la Bastille]seit längerem bewegt und zunehmend verstört: das Auseinanderdriften der eigenen Gesellschaft, begleitet von einer verstärkten Hinwendung zur Religion nicht irgendwo in Syrien, sondern hier in Paris, in der eigenen Community. Ein alter Kommunist macht plötzlich Ramadan. Die jungen Koksdealer an der Ecke Oberkampf und Ménilmontant, die noch mit 35 bei den Eltern wohnen, verkehren von einem Tag auf den anderen in Moscheen, die vom Geheimdienst überwacht werden (eine davon liegt ein paar Gehminuten von den Ausgehmeilen entfernt ebenfalls im 11. Arrondissement). Ein junger lokaler Antifaschist verschwindet in der radikalislamischen Szene, denn die Muslime seien die neuen Juden Europas, soll er gesagt haben, Pogrome nicht mehr fern.«(7)

Nach den Morden an den Redaktionsmitgliedern der Satirezeitschrift ›Charlie Hebdo‹(8) im Januar dieses Jahres war es relativ rasch wieder ruhig geworden. Doch nun stürmen diese sozusagen heimatlos gewordenen oder entwurzelten jungen Menschen dort, wo zur Zeit vor der französischen Revolution, nach historisch nicht unbedingt korrekter Überlieferung(9) die Bastille gestürmt, um Freiheit und Gleichheit zu erlangen, im Mai 1968 nicht allzu weit entfernt, an der Sorbonne, die Barrikaden bestiegen wurden, und in den neunziger Jahren wiederum um die Place de la Bastille während eines Streiks »weit über eineinhalb Millionen […] marschierten durch die großen Achsen von Paris zur Place de la Nation von morgens um halb zehn bis abends um halb sechs, immer mindestens zehn nebeneinander in ununterbrochenem, dichtem Strom«(10), um sich erneut gegen den Staat aufzulehnen, wenn auch dieses Mal mit mörderischen Mitteln, die weit über das Maß hinausgingen, mit dem beispielsweise die deutsche ›Rote Armee Fraktion‹ (RAF) den ihren politisch gewaltsam zu korrigieren trachtete.

Am 27. November waren es wiederum Millionen, die auf die Straße gingen und allüberall die Tricolore hissten, dieses Mal allerdings der Trauer um 130 Menschen wegen, die ermordet worden waren, während oder weil sie sich vergnügten, was einigen nicht behagt in diesem grundsätzlich katholischen Land, das allerdings, gesetzlich verankert, von einer absoluten Religionsfreiheit bestimmt ist, die Gérard Biard anlässlich seiner Gedenkrede unter dem Titel ›Im Namen der Freiheit‹ auf seine getöteten Kollegen von Charlie Hebdo auf der Medienkonferenz ›M100 Sanssouci Colloquium‹ in Potsdam so verdeutlicht hat:

»Um die Religionsfreiheit zu gewährleisten, darf sich nach dem angelsächsischen Modell, das Ihnen vielleicht vertrauter ist, der Staat nicht in religiöse Angelegenheiten einmischen. In Frankreich ist es genau umgekehrt: Die Religion darf sich nicht in staatliche Angelegenheiten einmischen. Die Grundprinzipien des französischen Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat von 1905 finden sich gleich in seinen ersten zwei Sätzen: ›Die Republik gewährt Gewissensfreiheit‹ – dies impliziert die Freiheit zu glauben, aber auch die Freiheit, nicht zu glauben. Und ›die Republik erkennt weder eine Religionsgemeinschaft an, noch finanziert oder bezuschusst sie eine Religionsgemeinschaft‹.

In Frankreich gibt es keine Staatsreligion. Der Staat ist atheistisch, und die Religion hat nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun, sondern ist Privatsache. Das ist von grundlegender Bedeutung. Ein laizistischer Staat muss nicht zwangsläufig demokratisch sein, jedoch kann es ohne Laizismus keine Demokratie geben. Nur der Laizismus ermöglicht die umfassende Ausübung dieses politischen Systems, das gewiss nicht perfekt ist. Es hat aber einen unschätzbaren Vorteil gegenüber allen anderen Systemen: Es weiß eben, dass es noch verbesserungswürdig ist. Und daher bietet die Demokratie den einzigen Rahmen, in dem eine Gesellschaft auf Weiterentwicklung hoffen darf.«(11)

Es waren also wiederum Menschen in Massen unterwegs auf den Straßen, nicht nur in Paris, sondern im ganzen Land, wie 2002 gegen den Front National des Jean-Marie le Pen, der in die Stichwahl der Présidentielle gekommen war, die dieses Mal zwar in erster Linie trauerten, jedoch auch ihr Recht auf Religionsfreiheit einforderten, anders eben als denjenigen, die offenbar der Meinung sind, nur Allah dürfe noch über sie herrschen und kein französischer, königsgleicher Monsieur le Président, der ohnehin mit einer Machtfülle ausgestattet ist wie kein zweiter, demokratisch gewählter, Politiker an der Spitze eines Staates. Dass aus diesen Gläubigen radikale, zum Krieg aufrufende und ihn auch ausführende Muslime geworden sind, ist besonders bedrückend in diesem ausgewiesen laizistischen Land.

Es handelt sich nämlich überwiegend um Franzosen, die einen Staat bekämpfen, mit dessen Auffassung von fröhlicher Freiheit sie nicht einverstanden sind. Und das im Land der vielgerühmten französischen, gleichwohl aus England, Portugal und Spanien dorthin gelangten Aufklärung.

871px-Algérie_frZur Ursachenforschung gilt es, noch ein wenig tiefer hineinzuleuchten in dieses sich eben nicht gerade erst kürzlich aufgetane Loch der Geschichte der ›Grande Nation‹. Im 19. Jahrhundert teilten sich England und Frankreich die Einflussbereiche in Afrika auf. 1830 bis 1847 erobert bzw. annektiert Frankreich, durchaus auch als Folge einer innenpolitischen Krise, Algerien, das somit zur französischen Kolonie wird.(12)

Während dieser Zeit ziehen enorm viele Menschen aus allen erdenklichen Ländern nach Algerien. Sie setzten sich zusammen aus Spaniern, Marokkanern, Tunesiern, Italienern, Korsen, Sarden, Deutschen, die, anstatt nach Amerika zu gelangen, im afrikanischen Wilden Norden landeten, Elsässer, die nicht Deutsche werden wollten, Kommunarden von den Weber-Aufständen in Lyon und sehr, sehr viele Weinbauern aus Südfrankreich, denen der Rebstockkrankheit wegen ihr Lebensunterhalt genommen worden war.

›Pieds-noirs‹. Übersetzt heißt das: schwarze Füße. Deutungen für den Ursprung dieses Begriffs gibt es viele. Zum ersten: weil die Kolonialisten dunkle Stiefel, Stiefeletten oder Gamaschen trugen. Dann heißt es, die schwarzen Füße rührten von den Rebstöcken her, die die Siedler in Algerien gepflanzt hätten; die stammten aus den USA und waren schwarz. Erst waren Pieds-noirs also die Rebstöcke, dann die Winzer selbst und schließlich alle Algerienfranzosen; Franzosen waren sie, wurden ihnen doch, soweit sie sie nicht ohnehin besaßen, nahezu durchweg die französische Staatsbürgerschaft erteilt, auch der jüdischen Minderheit, die lange vor der Kolonisation in Algerien heimisch war. Eine weitere Auslegung des Phänomens der schwarzen Füße deutet auf das Traubentreten hin, das Zerstampfen der Früchte. Am abwegigsten erscheint der Verweis auf den Indianerstamm der ›Blackfeet‹ im heutigen US-Bundesstaat Montana.(13) Andererseits waren die Franzosen im Gebiet der heutigen USA recht aktiv, und es ist bekannt, dass sie im 17. Jahrhundert mit indianischen Stämmen gegen die Engländer paktierten. Siegreich blieben die Engländer, einzig der kanadische Bundesstaat Quebec ist bis heute quasi rein französisch geblieben. Unvergessen bleibt dabei der Besuch von Mon Général Charles de Gaulle, in den fünfziger Jahren bereits französischer Monsieur le Président, der als erste Station seiner Reise nicht etwa, wie staatsbesuchlich vereinbart, die kanadische Haupstadt Ottawa ansteuerte, sondern Quebec, um sich dort gleich einem französischen König bejubeln zu lassen.

Der Mehrheit der muslimischen Ureinwohner Algeriens wurde nach der Annektion ein Sonderstatus zugewiesen. Sie waren dann die ›muslimischen Franzosen‹; sie besaßen allerdings nicht die gleichen Rechte wie die französischen Staatsbürger und durften beispielsweise auch kein politisches Amt bekleiden.

Nach dem zweiten Weltkrieg umfasste Französisch-Algerien ungefähr zehn Millionen Einwohner. Neun davon gehörten den Franzosen zweiter Klasse an, den Muslimen. Der verbleibende Rest waren ›Algerienfranzosen‹ . Sie waren die Herren, bestimmten Politik und Wirtschaft. Bald wurden diese Algerienfranzosen allgemein unter dem anderen Namen bekannt: Pieds-noirs, Schwarzfüße. Der Ausdruck gilt auch heute noch für Franzosen, die aus Marokko oder Tunesien zurückkamen, eben für alle anderen aus den ehemals französisch verwalteten Gebieten in Nordafrika.

Ab 1954 wurde Algerien Schauplatz eines schrecklichen Krieges, der von den Bestrebungen nach Unabhängigkeit, nach Entkolonialisierung ausgelöst worden war. Die französische Armee und die algerischen Freiheitskämpfer bekämpften einander aufs Furchtbarste: Folter, Mord, Attentate waren an der Tagesordnung.

Als Massaker von Paris ging am 17. Oktober 1961 ein Gemetzel während des Algerienkrieges in die an Blutbädern nicht eben arme Geschichte des Landes ein. In unvorstellbarer Brutalität ging die Polizei gegen eine nicht genehmigte, aber friedliche Demonstration mehrerer zehntausend Algerier vor, zu der die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN aufgerufen hatte. Es ist davon auszugehen, dass mindestens 200 Menschen getötet wurden. Sie wurden erschossen, erschlagen und zum Teil in die Seine geworfen. Dieses Ereignis wurde in den französischen Medien seinerzeit nahezu flächendeckend totgeschwiegen und erst sehr viel später zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung in Frankreich.

Zum Freundeskreis des Autors, der sich einige Zeit in regem Austausch mit Pieds-noirs befand und auch an deren regelmäßigen Zusammenkünften teilnahm, gehörte eine Frau, der in Algier als Kind im Kindergarten eine Handgranate die rechte Hand abriss. Ob es sich um eine mütterlich-algerische der ›Front de Libération Nationale‹ (FNL) oder um eine der zu den väterlichen Algerienfranzosen zählenden ›Organisation de l’Armée Secréte‹ (OAS) handelte, das wurde nie geklärt. Klar wurde und ist bis heute, dass sie dieses Ereignis nie überwunden hat.

Die Pieds-noirs jedenfalls waren in Frankreich nicht gelitten, als sie zurückkamen aus Nordafrika, diese Sorte Franzosen wollte im Land kaum jemand haben, häufig wurden sie als Abschaum bezeichnet. Dennoch begegneten einige ›echte‹ Franzosen diesen ›unechten‹, und folglich kam es zu jener mehr oder minder fröhlichen ›Durchrassung‹, im zeitgenössischen Deutschland gerne auch Multikulturalität genannt, die Frankreich seiner vielen Kolonien wegen auch kennzeichnet.(14) Dennoch befinden sich auch in den nachfolgenden Generationen der Pieds-noirs, also bis heute häufig darunter Menschen, so jedenfalls die Erfahrung des Autors, die sich zwar oftmals gerieren wie Bourgois des 19. Jahrhunderts, stets fein gewandet, die Etiquette bewahrend und durchweg in gepflegtem Französisch parlierend. Bisweilen erinnern sie an die Franzosen von Martinique, wo dem Autor gegenüber ein überaus höflicher und freundlicher, natürlich dunkel pigmentierter Einheimischer einmal meinte: Will man (wie) in Frankreich leben, dann müsse man auf diese Insel umsiedeln, denn nur dort würde noch die Tradition gelebt, Familie und gutes Essen. Die Pieds-noirs zeigen sich auch heute noch tradierten Franzosen gegenüber nach wie vor äußerst reserviert, was sich häufig darin zeigt, dass sie sich Ausländern gegenüber aufgeschlossener verhalten.

Der neuere Abschaum sind allerdings seit vielen Jahren, Jahrzehnten besagte ›Beurs‹.(15) Sie litten und leiden in der Regel unter der Problematik der Integration, was zur bereits erwähnten Ghettoisierung in den Vor- oder Randstädten geführt hat und aus denen sich einige – einige, wahrlich nicht alle – der jüngeren Menschen rekrutieren dürften, die sich nun unter Allahs Fittiche begeben haben und in dessen Namen einen sogenannt heiligen Krieg führen.

Unter den Beurs hat sich im Laufe der Jahre eine eigene literarische, musikalische wie filmische Subkultur unter dem Begriff ›Cinéma Beur‹ gebildet. In den Achtzigern entstand beispielsweise das Motto ›Black-blanc-beur‹, das im ›Bleu, blanc, rouge‹ der französischen Nationalflagge Tricolore wurzelt, die deutlich, also überall, landesweit zu zeigen die Franzosen am Trauertag des 27. Novembers wieder aufgefordert waren, um damit die Einheit oder auch das Nationalbewusstsein zu demonstrieren. Der rasch zur Mode werdende Teil des ›Black-blanc-beur‹ sollte allerdings in erster Linie auf die Multikulturalität Frankreichs verweisen, die eben zu einem erheblichen Anteil von Nordafrika her bestimmt ist; wenn es auch kaum eine Ethnie aus aller Welt geben dürfte, die nicht längst im Land vertreten ist und über die französische Staatsbürgerschaft verfügt.

Unter den jungen Beurs hat sich, mehr oder minder zwangsläufig, eine eigene, eine (Sub-)Kultur entwickelt. So formierte sich Mitte der achtziger Jahre nach dem ›marche des Beurs‹(16) beispielsweise unter dem Namen ›Black-blanc-beur‹ eine Bühnen-Tanz-Gruppe von Jugendlichen, die sich zusammensetzte aus Arbeitslosen unterschiedlicher Hautfarben aus Pariser Vororten. Beliebt war und ist dieser Begriff auch im Zusammenhang mit der französischen Fußballnationalmannschaft, die zur Europameisterschaft 1998 zum ersten Mal gezielt ›gemischtfarben‹ antrat – und den Wettbewerb gewann. Auch im Frauenfußball wurde das Umdenken deutlich: Im Europapokal siegte Olympique Lyon 2011 mit einer Frauschaft, die nahezu zur Hälfte aus weiblichen ›Beurs‹ bestand.(17) Doch nun sind sie tatsächlich in aller Munde.

| DIDER CALME
| Titelbild: Robert Delaunay: ›La Tour Eiffel et la Roue‹ (1910-1913)

Anmerkungen
1 Hebdo ist eine Abkürzung von hebdomadaire und bedeutet wöchentlich
2 Was auch aus der Perspektive Montan-Union betrachtet werden darf, jene sich daraus ergebende wirtschaftliche Zusammenarbeit, die auch als Beginn der europäischen Union gedeutet werden kann.
3 Interessanterweise geht aus einer vor einigen Wochen von ›Le Monde‹ und auch teilweise in anderen Medien in Teilen veröffentlichten Untersuchung hervor, dass in einigen Jahrzehnten das Französische das Englische als Weltsprache (wieder) ablösen solle; es sei darauf zurückzuführen, da die nach wie vor, vor allem in Afrika gelegenen, französischsprachigen Länder über eine außerordentlich hohe Geburtenrate verfüge.
In Europa wird Französisch überwiegend in Frankreich, aber auch in der Westschweiz, in im italienischen Aostatal, im wallonischen Teil Belgiens sowie auch in Luxemburg als Muttersprache gesprochen. Französisch ist Amtssprache auch in Monaco und teilweise in Andorra. In Afrika verständigen sich insgesamt circa 130 Millionen Menschen in französischer Sprache. In 22 afrikanischen Staaten und auf den östlich gelegenen Inseln Mauritius, Madagaskar und den Seychellen wird Französisch als offizielle Sprache erachtet. In der kanadischen Provinz Quebéc wird Französisch von ca. 6,5 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen, ebenso in der Karibik (Martinique) oder in La Réunion im indischen Ozean. Auch in Teilen der USA, insbesondere in Lousiana (ca. 0,2 Millionen) und Haiti (etwa sieben Millionen), ist die französische Sprache sozusagen landläufig.
4 Die Begriffe ›Kärcher‹ und ›kärchern‹ sind inzwischen sogar in die deutsche Umgangssprache eingegangen; ›Kärcher‹ ist zum Gattungsbegriff für Dampfdruckreinigungsgeräte eben dieses deutschen Herstellers geworden. Das dem Verb ›kärchern‹ entsprechende ›nettoyer au karcher‹ ist nach Angabe des ›Le Petit Robert‹ bereits seit 1992 in der französischen Sprache verankert, wie der Tageszeitung ›Les Échos‹ vom 8. März 2007 zu entnehmen war, wenngleich dieser Ausdruck erst durch den Gebrauch des damaligen Innenministers Sarkozy im Zusammenhang mit dem landesweiten Aufruhr von 2005 weit über die Grenzen Frankreichs bekannt wurde: »Le terme ›nettoyer au karcher‹ est le terme qui s’impose, parce qu’il faut nettoyer cela.« (Der Ausdruck ›kärchern‹ ist der Ausdruck, der sich aufdrängt, weil man das reinigen muß.)
5 Kolja Lindner vom Pariser Institut d’Études Politiques de Paris (IEP de Paris), kurz Sciences Po genannt, dazu: »Die zeitgenössische Kritik am Ausdruck ›beur‹ ist auf zwei Ebenen angesiedelt. Erstens ist ›verlan‹ eine vorwiegend im Großraum Paris verbreitete Mundart, sodass der landesweite Gebrauch des Ausdrucks von den nordafrikanischen Einwandererkindern aus der französischen Provinz abgelehnt wird (vgl. Jazouli 1986: 31, Fn.). Nicht ganz zu unrecht bemerkt die Romanistin Sylvie Durmelat, dass das Wiederauftauchen des landestypischen Konflikts zwischen Hauptstadtregion und restlichen Landesteilen bei den ›beurs‹ davon zeugt, wie sehr sich diese französischen Habitus zu eigen gemacht haben (vgl. Durmelat 1998: 201).
Zweitens, so hebt der an der ›Marche‹ beteiligte Sozialwissenschaftler Saïd Bouamama hervor, birgt der Ausdruck die Gefahr einer ›Verleugnung arabischer Identität‹: ›Hinter der beur-Mode und dem Multikulturalismus-Diskurs versteckt sich die Aufrechterhaltung eines Assimilationswillens und das Fortbestehen einer Situation sozialer Ungleichheiten‹ (Bouamama 1994: 88). Erneut berechtigt weist Durmelat darauf hin, dass solch eine Kritik die Gefahr der Annahme einer essentialisierten ›arabischen Ursprünglichkeit‹ birgt (vgl. Durmelat 1998: 202).« Marche des Beurs)
6 Eine annähernde Entsprechung findet sich in Israel, wo die im Land Geborenen ›Sabra‹ bzw. ›Sabre‹ genannt werden, als Abgrenzung zu den zugezogenen bzw. noch in der Diaspora lebenden Juden.
7 Der gesamte Artikel ist hier nachzulesen.
8 Als das gefürchtete Gefängnis Bastille, in der viele politische Gefangene sistiert worden waren, gestürmt werden sollte, befanden sich nur noch wenige Inhaftiere darin; es wurde vom Kommandanten übergeben.
9 Doris von Drathen, Telefax aus Paris
10 Zitiert nach ›Die Welt‹ vom 19.09.2015:
11 Über Besitztümer in Übersee verfügt Frankreich im übrigen noch heute, beispielsweise im indischen Ozean (La Réunion) oder in der Karibik (Martinique); nach Inlandflügen von Paris aus dorthin wird mit dem Euro bezahlt.
12 Die Blackfeet waren zunächst im Nordosten Amerikas angesiedelt, etwa südlich des heutigen kanadischen Quebec, zogen dann jedoch in den Nordosten.
13 Frankreich unterscheidet zwischen DOM-TOM (La France d’Outre-Mer) was der Europäischen Union entspricht, und COM (Collective d’Outre-Mer) wozu Mayotte zählt, das sich 2009 mit über sechzig Prozent Stimmen für eine engere Bindung an Frankreich ausgesprochen hat.
14 Der Begriff entstammt dem ›Verlan‹, einer in der französischen Jugend, vor allem in Paris angesiedelten spielerischen Sprache, in der die Silben umgekehrt werden. Bereits die Bezeichnung ›Verlan‹ ist in dieser Sprache verfaßt, kommt sie doch vom französischen ›à l’envers‹ (umgekehrt). Viele Wörter sind aber längst in die französische Umgangssprache eingegangen, wie beispielsweise besagtes Beurs (zu ›Arabes‹ ) anstatt ›Maghrébins‹ . Es existieren dazu gar Wörterbücher; als annäherndes Beispiel zu nennen wäre der Dictionnaire ›Dico marseillais : d’Aïoli à Zou!‹, der allerdings eher der provençalischen Sprache der Jugend zuzuordnen ist, zu dem der Schriftsteller italienischer Abstammung Jean-Claude Izzo aus Marseille, der sich nicht nur den im Norden seiner Heimatstadt angesiedelten bzw. ghettoisierten Beurs zugehörig fühlte, ein Vorwort verfaßt hat.
15 »Am 3. Dezember 1983 endete mit etwa 80.000 TeilnehmerInnen in Paris ein ›Marsch für die Gleichheit und gegen den Rassismus‹, der sechs Wochen zuvor vom südfranzösischen Marseille aus gestartet war, halb Frankreich durchquert hatte und für eine ganze Generation von Einwandererkindern zum Sinnbild geworden ist.« Kolja Lindner, in: Marche des Beurs.
16 Frauen sind es bedauerlicherweise auch, die den Begriff international bekannt machten: Im Bereich der Pornographie sind es die ›Beurettes‹ , also eine Abwandlung der korrekten weibliche Form ›Beure‹, die als Synonym für sexuell willige Frauen aus allen arabischen Ländern gelten.

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Folkdays aren’t over… Emily Barker

Nächster Artikel

Sweet Beats And Christmas Cheer: December New Album Reviews

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Kirschenessen

Gesellschaft | Hans Joachim Schellnhuber: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung genießt in der Klimaforschung hohes Ansehen, und sein Gründungsdirektor legt terminlich passend zur Weltklimakonferenz, die Anfang Dezember in Paris stattfindet, ein umfangreiches Werk zur Lage des Klimas vor. Von WOLF SENFF

Hoppla, jetzt komm ich

Gesellschaft | Phillip Riederle: Wer wir sind und was wir wollen In Wer wir sind und was wir wollen. Ein Digital Native erklärt seine Generation erklärt Phillip Riederle vorlaut die Welt der »Digital Natives«. Wenn es nach ihm geht, leben wir bald alle in einer schmucklosen iPhone-Utopie. Von JAN FISCHER

Vorsicht vor Frauen und Schnaps

Gesellschaft | Leitfaden für britische Soldaten 1944 Spätestens seit die US-Regierung auf den 9/11-Terror mit Bombeneinfällen im Irak reagierte, kennt man auch im friedensverträumten Deutschland das Wort »Exit-Strategie«. Man sollte, besagt es, nicht irgendwo einfallen, wenn man nicht weiß, wie man wieder rauskommt. Das leuchtet selbst Zivilisten ein, ist aber nur der zweite Schritt. Der erste – für den zweiten unabdingbare – scheint in neuen »asymmetrischen« Kriegen fatalerweise wegtechnologisiert zu sein: Man sollte das Land, in das man einfällt, sehr gut kennen. Nicht nur die Geo- und Topographie samt Klima, sondern die Menschen und deren Geschichte, Kultur, Lebensart, Mentalität. Mit

Wagenburg-Mentalität

Gesellschaft | Varoufakis / Holland / Galbraith: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise

Revolutionäre im Autohimmel

Gesellschaft | Bastian Obermayr: Gott ist gelb Auf der Hauptversammlung vom 10. Mai 2014 versuchte der ADAC, sein verbeultes Image zu reparieren. Doch was wird ihm eigentlich vorgeworfen? Gut, die manipulierten Wahlen zum »Auto des Jahres« gingen groß durch die Presse. Auch von außerplanmäßigen Flügen mit Rettungshubschraubern konnten wir lesen. Der ›SZ‹-Journalist Bastian Obermayer, der die Enthüllungen über den ADAC ins Rollen brachte, hat in seinem Buch ›Gott ist Gelb‹ weitere Verfehlungen ans Tageslicht geholt. Und lässt kein gutes Haar am Münchner Verein. Monatskartenbesitzer JÖRG FUCHS hat viele Fragen – bekommt er auch Antworten?