/

Singen in den Rettungsbooten

Gesellschaft | Constanze Kleis: Sterben Sie bloß nicht im Sommer

Das Beste kommt zum Schluss? Nicht immer hat der Volksmund recht. Constanze Kleis hat die letzten Monate ihrer todkranken Mutter dokumentiert und gibt nach herben Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitswesen den dringenden Rat: »Sterben Sie bloß nicht im Sommer«. Von INGEBORG JAISER

Constanze Kleis:  Sterben Sie bloß nicht im Sommer

Nichts ist so sicher wie der Tod. Dennoch hoffen wir in einer paradoxen Anwandlung von Überheblichkeit, erst einmal davon verschont zu bleiben. Möge der Kelch an uns vorüber gehen – möglichst auch an unseren Angehörigen. Dennoch: »Sich einzubilden, der Tod würde eine Ausnahme machen, führt quasi zwangsläufig zu einigen unangenehmen Überraschungen«, erkennt Constanze Kleis, als bei ihrer Mutter ohne Vorwarnung und ohne Vorerkrankung ein unheilbaren Gehirntumor diagnostiziert wird.

Beipackzettel des Sterbens

Die drei Monate bis zu ihrem Tod lassen die Vorhölle erahnen: in einer demütigenden Odyssee durch die unbeschreibliche Tristesse von Krankenhäusern, Pflegeheimen, Strahlenkliniken und Palliativstationen. In einem kafkaesken Marathon durch Antragstellungen und Begutachtungen, einem atemlosen Endspurt im Erhaschen eines zuständigen Arztes oder einer willigen Pflegekraft. Dabei gilt es, Geduld und Galgenhumor zu bewahren, ganz im Sinne des Voltaire’schen Satzes: »Das Leben ist ein Schiffswrack, aber wir dürfen nicht vergessen, in den Rettungsbooten zu singen.«

Überaus ernüchternd ist der freie Fall der Journalistin und Bestsellerautorin Constanze Kleis von der Presse-Lounge des vitalen Lebens in den düsteren Backstage-Bereich des deutschen Gesundheitswesens. Gerade dann, wenn die Zeit knapp wird und die Nerven blank liegen, braucht man Unmengen von beidem. Vor allem, wenn die todkranke Mutter über »keinen dieser Beipackzettel des Sterbens« verfügt: keine Vorsorgevollmacht, Patienten- oder Betreuungsverfügung. Constanze Kleis ist vollauf damit beschäftigt, Behandlung und Pflege einer Angehörigen zu organisieren, sich Gehör zu verschaffen, wichtige Entscheidungen zu treffen. Und bezweifelt, ob sich ein alleinstehender, verwirrter Mensch ohne Handy und ohne Internet-Zugang nur halbwegs durchschlagen könnte. Denn, man müsste »schon kerngesund sein, um die Zumutungen in Medizin, Reha und Pflege nicht nur zu ertragen, sondern auch zu überleben«.

Gang über die Reling

Constanze Kleis hat diese bittere Lektion gelernt. Beharrlich recherchiert. Zahlen und Statistiken aufbereitet. Mediziner, Juristen und Pflegekräfte interviewt. Und ein Buch geschrieben, dass allzu deutlich aufzeigt, »welche Regeln man beim Gang über die Regeln beherzigen sollte«. Eine drastische Abrechnung mit unserem Gesundheitswesen und ein frecher, schonungsloser, ironisch-sarkastischer Leitfaden für alle, die das »Eventmanagement für die letzte große Abschiedsshow« nicht klaglos anderen überlassen möchten.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Constanze Kleis: Sterben Sie bloß nicht im Sommer. Und andere Wahrheiten, die Sie über Ihr Ende wissen sollten
Köln: DuMont 2012
220 Seiten. 19,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Rufer in der Wüste

Nächster Artikel

»Wer ins Wespennest sticht, wird gestochen«

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Der neofeudale Zugriff

Gesellschaft | Hannes Hofbauer: Die Diktatur des Kapitals Der Begriff Postdemokratie, 2003 von Colin Crouch geprägt, ist fester Bestandteil der kapitalismuskritischen Debatte. Hofbauer greift in seinem Beitrag diesen Begriff auf, und nicht nur die Gegenwart, sondern auch der Rückblick auf die Jahrzehnte seit Kriegsende sieht auf einmal gänzlich anders aus, als uns der mediale Mainstream glauben machen möchte. In den westlichen Gesellschaften werde die Macht durch Oligarchen und Spitzenpolitiker ausgeübt und medial abgesichert. Von WOLF SENFF

Einladung zur Toleranz

Jugendbuch | Julius Thesing: You don’t look gay

Vielleicht war ich lange sehr naiv. Schwule und Lesben in unserer Gesellschaft? Nicht wirklich ein Problem. Klar, es gab und gibt Menschen mit Vorurteilen, aber im 21. Jahrhundert ist das doch wohl eine verschwindende Minderheit. Von ANDREA WANNER

Und sie bewegt sich doch?

Gesellschaft | Wolfgang Streeck: Aufsätze und Interviews, 2011-15 Wolfgang Streeck ist ein renommierter Soziologie, bis Oktober vergangenen Jahres leitete er das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Ende der neunziger Jahre war er an der Vorbereitung der Schröderschen Agenda 2010 beteiligt, er wirkte aktiv an der Politik sozialer Kürzungen mit. Von WOLF SENFF

Alter Streit und neue Lösung

Petra Wild: Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung

Der Palästinakonflikt ist in den letzten Jahren medial in den Hintergrund getreten. Der Vormarsch des IS und der Zerfall Syriens und Libyens haben ihn von den Titelseiten verdrängt. Nur wenn wieder einmal ein deutscher Außenminister lustlos die Fortsetzung des Friedensprozesses anmahnt, nimmt man ihn noch wahr. Die Islamwissenschaftlerin Petra Wild macht uns in ›Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung‹ mit einem neuen Denkmodell bekannt. Von PETER BLASTENBREI

Please, don’t be passive!

Gesellschaft | Anthony B. Atkinson: Ungleichheit – Was wir dagegen tun können Die Kluft zwischen Bettelarm und Superreich wächst zunehmend – auf ein Prozent konzentriert sich über 50 Prozent des Weltvermögens. Wie kommt es zu dieser Ungleichheit und was können wir dagegen tun? Ist die von der Politik präferierte Steuererhöhung wirklich die universelle Lösung? Ein Blick in die Historie der Weltnationen macht eines deutlich: Wir müssen handeln, statt nur zu diskutieren! Von MONA KAMPE