Gesellschaft | Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft
Der französischer Soziologe Luc Boltanski veröffentlichte im Jahr 2003 mit Eve Chiapello Der neue Geist des Kapitalismus. Sein neues Werk spielt eine andere Melodie, er knüpft an Methoden der Literatursoziologie an, an Lucien Goldmann und Pierre Bourdieu, die auf der Grundlage der Abbildtheorie von Literatur und Gesellschaft sich der Ästhetik literarischer Werke zuwandten. Luc Boltanski widmet sich dem Genre Kriminalroman/Spionageroman – ein vielversprechender Ansatz. Von WOLF SENFF
Im letzten Teil von Rätsel und Komplotte erst grenzt sich Luc Boltanski gegen Karl Popper ab, der sich 1948 in einem Vortrag dagegen wehrte, dass die Soziologie das Verhalten von Gruppen, Klassen, Gesellschaften zu ihrem Untersuchungsgegenstand wähle und so Kausalitäten in gesellschaftlichen Prozessen beschreibe. Karl Popper prägte das verächtliche Wort einer »Verschwörungstheorie der Gesellschaft« und provozierte heftige, jahrzehntelange Auseinandersetzungen.
In der Nachfolge Poppers bemühte Gary Becker das Markt-Paradigma, um alle sozialen Phänomene zu erklären. Als letztes Beispiel für den ungebrochen bestehenden Popperschen »Aberglauben« der Soziologie nennt Boltanski Nathalie Heinrich, die noch 2009 Karl Poppers Begrifflichkeit aufnimmt und abwertend von einer »Soziologie des Verdachts« spricht.
Tradition des Komplotts am literarischen Beispiel
Die Aufmerksamkeit Luc Boltanskis gilt jedoch über drei Viertel von Rätsel und Komplotte der historischen Entwicklung des Kriminalroman-Genres sowie des Spionageromans. Es ist eine unterhaltsame und detailreiche Darstellung, deren Ergebnisse in schöner Deutlichkeit illustrieren, dass eine »Verschwörungstheorie« oder, sachlich benannt, eine Ebene konstruierter Realität längst vor »Poppers Fluch« (Boltanski) als Fakt im Bewusstsein von Literatur verankert war.
Das Verbrechen als Ausgangspunkt jedes Kriminalromans bricht in die Ordnung ein, es ist zuallererst ein »Rätsel«, eine »Anomalie der Realität«, und »im Kriminalroman ist der Staat als für die Realität verantwortliche Instanz so etwas wie einer Prüfung oder Bewährungsprobe unterworfen«. Das Verbrechen tritt unkalkulierbar auf, jenseits aller ordnenden Strukturen, und deshalb ist Boltanski zufolge die »ständige Anzweiflung«, der »Generalverdacht« die normale Haltung von Autor, Leser oder handelnder Romanfigur. Das Komplott sei hier der zentrale Mechanismus, der aus machtpolitischem Interesse qua Seilschaft, Korruption u.a.m. Realitäten verbirgt, Kulissen vortäuscht, Potemkinsche Dörfer in die Welt setzt.
Sherlock Holmes und Kommissar Maigret I
Als erste geschlossene Welt des Kriminalromans stellt uns Boltanski die Sherlock-Holmes-Episoden Conan Doyles vor; sie entstanden zwischen 1887 und 1927. Doyle, der Sherlock Holmes im Jahr 1893 hatte sterben lassen (The final problem), musste ihn 1901 reanimieren (Der Hund der Baskervilles). Erste Clubs für Holmesianer entstanden 1934; heute gibt es etwa fünfhundert davon, an Popularität mangelt es nicht.
Holmes, Privatdetektiv, ermittelte unter Angehörigen der gesellschaftlichen Elite, diskret, fernab jeder Öffentlichkeit, er war eine Instanz, die souverän nach moralischen Grundsätzen urteilen konnte und sich gegebenenfalls über die Rechtsordnung hinwegsetzte; die Romane Conan Doyles führen uns eine Klassengesellschaft vor, die nach dem Vorbild viktorianischer Romane wesentlich aus Herren und Dienern besteht, seien es Bedienstete, die dem einfachen Volk angehören, oder privilegierte Elitebedienstete wie Butler, Gouvernante, Kammerdiener.
Maigrets Ermittlungen, zwischen 1931 und 1972 publiziert und »Prototyp des französischen Kriminalromans«, beruhen anders als bei Sherlock Holmes auf Intuition. Maigret wahrt Distanz zu Bourgeoisie und Aristokratie, fühlt sich fremd im Ambiente eines Luxushotels (Maigret und die Keller des Majestique), zu seinem Gegenspieler wird häufig der Untersuchungsrichter Coméliau, der Kreisen des Großbürgertums angehört (vgl. etwa Maigrets Geständnis).
Sherlock Holmes und Kommissar Maigret II
Für Boltanski verkörpert Maigret die Spannung zwischen sozialem Gefüge sowie juristischer staatlicher Instanz, er ist ein einfacher Kerl und dennoch ein disziplinierter Beamter, nicht wie Holmes ein Mann der Logik, der wissenschaftlichen Methodik, sondern hat seine sozialen Kompetenzen, die er in den Dienst seiner Arbeit stellt. Maigret zeigt menschliches Verständnis, wenn er in einzelnen Fällen die Täter schont, damit sie Selbstmord begehen können oder eines natürlichen Todes sterben (Maigret in der Liberty-Bar), da »das Leben« sie seiner Meinung nach ohnehin genug bestraft hat.
Demgegenüber ist, so Luc Boltanski, Sherlock Holmes Welt transparent strukturiert, das Verbrechen bricht in die Ordnung ein, es ist das erwähnte Rätsel, das es zu lösen gilt, damit die Ordnung restauriert werden kann. Die Störung der Ordnung sei bei Doyle stets zeitlich und räumlich begrenzt, im Grunde gehe es um mechanische Reparaturvorgänge, in denen der über allem schwebende Detektiv sich als jeweils bester Berechner erweise.
Die Realität bei Simenon sei bereits doppelbödig. Maigret wisse um die Brüche, er pflege eine Art Laxheit gegenüber allem, was das zivile Leben betreffe, und greife nur so weit ein, wie es den aktuellen Fall angehe.
Doyle beschreibe den Ordnungstypus des postviktorianischen England, die Struktur sei unverbrüchlich aristokratisch, kapitalistisch und liberal, die Einteilung der Bevölkerung in Klassen werde als natürlich, ja gottgegeben betrachtet, die jämmerlichen Affären, in die sich die Mächtigen und Reichen verstricken, würden von Holmes stets »diskret« aufgedeckt.
Der Spionageroman sattelt drauf
Der »Held« des Spionageromans jedoch ist Boltanski zufolge nicht wie im Kriminalroman nur Jäger, sondern wird selbst gejagt. Mehr noch, der Spionageroman inszeniere einen Staat im Kriegszustand: »Die gesamte Gesellschaft wird durch die Machenschaften – die die Form von Komplotten annehmen – von subversiven und geheimen Großorganisationen gefährdet, deren Umfang den territorialen Rahmen einer Nation weit übersteigt und deren Verzweigungen bis in den Kern des Staates selbst reichen, der dadurch teilweise oder vollständig korrumpiert oder zumindest handlungsunfähig gemacht wird«. Die Verteidigung der Gesellschaft komme einer Einzelperson zu, ausgestattet mit Gewissen, Intelligenz und Mut, auf eigenes Risiko, ohne Hilfe des Staates und manchmal sogar gegen ihn.
Zurecht entsteht der Eindruck, die Realität habe die Fiktion des Romans eingeholt. Hinter all dem, was man gewöhnlich für real hält, verbirgt sich eine andere, undurchdringliche und finstere Realität. Boltanski weist gewissermaßen gegen den »Aberglauben« Poppers (s.o.) nach, dass in ernstzunehmenden, erfolgreichen Genres längst nicht mehr an »verborgener Realität« und Komplott bzw. »Verschwörung« gezweifelt und dieses Bewusstsein zurecht zum Gegenstand der Soziologie wird.
Es handelt sich stets um Komplotte, die tief in den Alltag der Gesellschaft hinein reichen. In Graham Greenes The Ministry of Fear (1943, dt. Zentrum des Schreckens, 1952) etwa gewinnt der Protagonist Arthur Rowe auf einer gänzlich unverdächtigen Wohltätigkeitsveranstaltung irrtümlich einen Kuchen, in dem ein Mikrofilm versteckt ist, auf dem sich der Geheimplan zur Verteidigung der englischen Küsten befindet usw. usf. Während des Kalten Kriegs entstandene Spionageromane unterstellen der Gegenseite je nach Sichtweise ein kommunistisches oder kapitalistisch-demokratisches Komplott und nehmen jeweils für sich eine normativ-humanistische Position in Anspruch.
Was den Spionageroman mit Kafka verbindet
Boltanski sieht zwischen 1950 und 1970, und seitdem mit ungebrochener Ausbreitung bis in unsere Tage eine dritte Tradition, in der die »Sehnsucht nach authentischen menschlichen Beziehungen« verkörpert ist, der Wunsch, »sich der Vermittlung der Apparate und der Staaten zu entziehen«, nach Befreiung vom Zwang »konstruierter Realität«, nach dem Eindringen von Welt »durch persönliche Erfahrungen und besonders über die Sexualität in das Leben«.
In John le Carrées 1963 erschienenem Der Spion, der aus der Kälte kam finde der Paradigmenwechsel zur Bürokratie als Komplott statt, wobei letztlich der Staat als Ort des Komplotts fungiere, die Spione seien Angehörige der Bürokratie. Boltanski erinnert an Orwells 1984 (1950), in dem die konstruierten Realitätsebenen sich nicht mehr zu einem sinnfälligen Zusammenhang schließen – ein Komplott, dessen Inszenierung von der Realität ununterscheidbar sei und lediglich vom diffusen Glauben an einen bedrohlichen Feind – »Big Brother« – genährt werde.
Ähnlich, so der Autor, thematisierte fünfundzwanzig Jahre zuvor Franz Kafkas Schloß die Unmöglichkeit jeder Suche nach Sinn, und seit 1970 spielt diese fiktionale Repräsentation des Komplotts auch in der anspruchsvollen Literatur eine zentrale Rolle, etwa im Werk von Don DeLillo oder Bret Easton Ellis. Man liest Boltanskis Rätsel und Komplotte mit Gewinn.
| WOLF SENFF
Titelangaben:
Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft
(Énigmes et Complots. Une enquêtes à propos d’enquêtes, 2012)
Aus dem Französischen von Christine Pries
Berlin: Suhrkamp 2013
515 Seiten, 39 Euro
Reinschauen
Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte auf suhrkamp.de (mit Leseprobe)