/

Was sich real ereignet

Gesellschaft | David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus

Verglichen mit der Fülle kapitalismuskritischer Arbeiten, die in den letzten Jahren erschienen und an dieser Stelle regelmäßig rezensiert wurden – Naomi Klein, Thilo Bode, Joseph Vogl, Jean Ziegler u.a.m. –, arbeitet David Harvey unkonventionell, er richtet seinen Blick auf das Kapital, die Perspektive von Klassenkämpfen ist für ihn gleich Null, die radikale Linke sei »heute weitgehend marginalisiert«. Von WOLF SENFF

siebzehnEr unterscheidet, wie im Titel angekündigt, siebzehn Widersprüche: ›Grundwidersprüche‹, ›bewegliche‹ sowie ›gefährliche‹ Widersprüche. Das hört sich dogmatisch an, Harvey geht aber in seiner scheinbar naiven, konsequenten Argumentation über marxistische Denkmuster hinaus, etwa indem er »Gebrauchswert« überzeugend definiert und sich folgerichtig gegen die Privatisierung von und für den Gebrauch von grundlegenden Bereichen wie Wohnungsbau, Bildungssystem und Gesundheitswesen ausspricht. Einfachheit des Denkens führt ihn zu unmissverständlichen Ergebnissen, die an Klarheit keine Wünsche offen lassen.

Zur Grundbefindlichkeit

Seine Auflistung von siebzehn Widersprüchen mag auf den ersten Blick ebenfalls schematisch und holprig wirken, aber sie läuft im Ergebnis auf eine facettenreiche, vielschichtige Untersuchung hinaus. Er verweist auf Interessengegensätze zwischen einzelnen Fraktionen des Kapitals sowie generell auf dessen »gleichzeitig schöpferische und destruktive Kraft«.

Die Taylorisierung suchte einst »die Produktionsprozesse so weit zu zerlegen, dass ein ›dressierter Gorilla‹ in der Lage wäre, die einzelnen Aufgaben zu übernehmen«; zwar habe sich die internationale Arbeitsteilung während der vergangenen fünfzig Jahre beträchtlich verändert und sei global durchaus funktional organisiert, doch die Grundbefindlichkeit des Menschen »unter Herrschaft des Kapitals« sei »leer und sinnlos«, er produziere für eine »lebensfeindliche, sinnentleerte Welt«, neoliberale Politik habe sich auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten »verheerend« ausgewirkt.

Unbeständig und chaotisch

Harvey Beschreibung der Gegenwart ist schonungslos, er sieht das Kapital, das sich die geographischen Räume nach seinen Bedürfnissen gestaltet, in einem beständigen Prozess der Wanderung über den Planeten, bedingt durch neue Technologien (Verlagerung vom industriellen Zentrum Detroit nach IT-Silicon Valley), durch billige Arbeitskraftressourcen u.a.m. Oft hinterlässt es Verwüstung und Wertverfall, und es herrscht eine »ungleiche geographische Entwicklung«, die auch durch eine eher kontroverse Logik staatlichen Handelns wenig beeinträchtigt werde.

Harvey konstatiert eine »unheilige Allianz zwischen Staatsmacht und Finanzkapital«. Hedgefonds und private Aktienfonds seien auf Zerstörung und Vernichtung angewiesen, selbst wenn es um die Lebensgrundlagen ganzer Völker gehe. Harvey verortet uns »in einer chaotischen und unbeständigen Zeit« und erklärt uns auf wunderschön kaltblütige Weise, weshalb die Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht gleichgewichtig sein könne und weshalb die Einkommensschere sich weiter öffne.

Nein, sie ändern nichts

»Das Kapital hat mittlerweile auf dem Gebiet des technologischen Wandels und der Globalisierung eine rücksichtslose Dynamik entfaltet, der es gleichgültig ist, unter welchen Bedingungen und ob überhaupt noch produziert wird.« Wenn aber kein gesellschaftlicher Wert mehr produziert werde, führe das in eine katastrophale Krise.

Es ist deprimierend, aber zweifellos politisch gewollt, dass wir durch die hiesigen Medien nur begrenzt über die politischen Realitäten informiert werden, und es ist für einen normalen Menschenverstand unfassbar, dass trotz der harschen Kritik an den herrschenden Zuständen nichts, aber auch gar nichts verändert wird.

Autonomieverlust

Bei Harvey lesen wir von breiten Sympathien in den USA für eine politische Bewegung, die sich gerechtere Verhältnisse auf die Fahnen schreibe, ebenso für Arbeiterinitiativen und solidarisches Wirtschaften. Mit den realen Veränderungen scheint es ähnlich zu sein, irgendwo wird mit allen verfügbaren Methoden gemauert.

Einen weiteren kaum lösbaren Widerspruch sieht David Harvey in der Kolonisierung des alltäglichen Lebens, des Bereichs der gesellschaftlichen Reproduktion. Er beschreibt einen Verfall des Alltags und einen Verlust an individueller Autonomie unter dem Einfluss von Kapital und kapitalistischem Staat. Die »Finanzialisierung« des Alltags verlange etwa beim Thema Alkohol und Drogen staatliche Interventionen, deren Bürokratisierungszwänge wiederum den Autonomieverlust steigern.

Von Freiheit und von Herrschaft

Eine von den realen Problemen ablenkende »Freiheitsrhetorik« diene der Durchsetzung machtpolitischer oder wirtschaftlicher Ziele, sie sei eine »Maske für Heuchler wie Bush« und diene Zielen wie Profit, Enteignung und Herrschaft. »Freiheit« sei das ursprüngliche Konzept der klassischen liberalen Nationalökonomie, verbunden mit Adam Smith und Friedrich Hayek, und wesentlich durch freie Unternehmerschaft und Privateigentum definiert.

Harvey spottet über diese bürgerliche Freiheit, die so frei sei, in Not und Elend zu helfen, indem wohltätige »Investmentmanager, Unternehmensführer und Staatschefs […] mit der rechten Hand nach der Lösung für Probleme [suchten], die sie mit der linken geschaffen hatten«, und zitiert zu dieser »Gewissenswäsche« ausführlich Peter Buffett, den Sohn des berüchtigten Großinvestors Warren Buffett – bürgerliche Freiheit und bürgerliche Herrschaft würden einander bedingen. Wie jedoch ein freier, ein von Entfremdung befreiter Mensch einst leben werde, das lasse sich heute nicht voraussagen. Der Weg dorthin sei kein determinierter Prozess, er »ist nicht vorherbestimmt, sondern hängt von uns selbst ab«.

Interne Widersprüche beim Kapital

Den ersten seiner »gefährlichen Widersprüche« sieht Harvey im Zwang zu exponentiellem Wachstum, das aufgrund in vielerlei Hinsicht endlicher Ressourcen gar nicht realisierbar sei. Bereits die Deindustrialisierung und das Verlagern profitabler Sektoren auf das Finanzkapital hätten dazu geführt, dass »parasitäre Formen des Kapitals« zunähmen, »Bond-Inhaber und Notenbanker beherrschen die Welt«, und »diese unproduktive Klasse werde das Industriekapital so lange auspressen, dass es nicht mehr produktiv arbeiten könne«.

Er hält das Kapital für in sich hinreichend flexibel, um bis auf Weiteres einer Gefährdung natürlicher Grundlagen zu begegnen. Weit gefährlicher könne sich auch hier auswirken, dass eine unproduktive Klasse von Grundbesitzern ihr Interesse darin sehe, die Erträge abzuschöpfen.

Grundlegender noch sei die Tatsache einzuschätzen, dass das Kapital alle Aspekte der Natur vereinnahme und der »Logik der Kommerzialisierung« unterwerfe; es finde eine »Vergewaltigung der Natur durch die Warenform« statt, das Kapital zerstöre damit ebenfalls »die gesittete und vernünftige Natur des Menschen«. Darin sieht er die »Saat für eine humanistische Revolte«.

Von Eliten und ihren Politikdarstellern

André Gorz folgend, plädiert er dafür, sich von fremdbestimmtem Konsumverhalten zu lösen und sich im Alltag von entfremdeten Bedingungen zu emanzipieren. Eine »progressive antikapitalistische Antwort auf die Widersprüche unserer Zeit« liege in einem revolutionären Humanismus und dem Verlangen nach einer Welt, die dem Einzelnen »die wahre Entfaltung seiner Natur oder die Chance auf ein glückliches und erfülltes Leben garantiert«, und er ruft mit Frantz Fanon die Menschen dieser Erde dazu auf, ihren »verantwortungslosen Dornröschenschlaf« aufzugeben.

Was gibt es da hinzuzufügen. Er hat recht, und man kann sich immer nur fragen, wie viel es noch braucht an Steigerung des Elends, an Völkerwanderung auf dem Planeten, an Zerstörung, an ›failed states‹, damit die herrschenden »Eliten« und ihre Politikdarsteller endlich ein Hauch von Ahnung streift, Ahnung dessen, was sich real ereignet.

| WOLF SENFF

Titelangaben
David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus
(Seventeen Contradictions and the End of Capitalism, übers. von Hainer Cober)
Berlin: Ullstein 2015
384 Seiten. 22 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Insel der Seligen

Nächster Artikel

20 Reasons Why You Don’t Have to Listen To James Bay Anymore

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Die digitale Revolution

Gesellschaft | Matthias Bernold / Sandra Larriva Henaine: Revolution 3.0 Jeder Protest stützt sich auf Waffen. Dazu zählen nicht nur Gewehre und Bajonette: Mit ihren Holzschuhen, »Sabots« genannt, zertrampelten Bauern einst die Ernte, um gegen übermäßige Steuern und Abgaben ihrer Herren zu protestieren. Swingmusik, lange Mäntel und Sonnenbrillen symbolisierten den Protest der »Zazou« gegen das französische Vichy-Regime. Cyber-Rebellen kämpfen heute in der ›Revolution 3.0‹ mit virtuellen Waffen. JÖRG FUCHS wirft mithilfe des gleichnamigen Buchs von Matthias Bernold und Sandra Larriva Henaine einen Blick auf die Motivationen und Mittel digitaler Freiheitskämpfer, bloggender Rebellen und anonymer Aktivisten.

Unter Gefahr für Leib und Leben

Gesellschaft | Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind Wer im Westen eine Praktica oder Exakta erwarb, wusste um ihre Ostproduktion. Auch bei Billy-Regalen und beim ein oder anderen Buch konnte, wer wollte, die Herkunft erahnen. Doch kaum jemand wird sich zur Produktion Zwangsarbeit in Ostgefängnissen vorgestellt haben. Tobias Wunschik schafft mit ›Knastware für den Klassenfeind‹ die Grundlagen für eine notwendige Debatte. Von PIEKE BIERMANN

Das Verhängnis einer Liebe

Menschen | Ingeborg Bachmann, Max Frisch: »Wir haben es nicht gut gemacht«

Von Juli 1958 bis zum Frühjahr des Jahres 1963 dauerte die Liebesbeziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch – zum Ende hin war sie vergiftet und zerbrach. Immer wieder ist über sie in der literarischen Öffentlichkeit gestritten worden mit Frisch in der Rolle des Böswichts und Bachmann in der des Opfers. Ein neues Editionswerk verlangt nach einer Korrektur der Sicht auf diese unheilvolle Beziehung der österreichischen preisgekrönten Lyrikerin und dem schweizerischen Erfolgsautor. Von DIETER KALTWASSER

Gutes Netz, böses Netz

Gesellschaft | Roman Maria Koidl: Web Attack / Michel Serres: Erfindet euch neu! Die zwei Bücher »Web Attack« und »Erfindet euch neu!« befassen sich mit der Frage, wie und was wir von uns im Netz lassen. Und zeigen dabei die ganze Bandbreite der Diskussion auf. Von JAN FISCHER

Besorgte Juristen

Gesellschaft | O. Depenheuer, C. Grabenwarter (Hgg.) Der Staat in der Flüchtlingskrise – Zwischen gutem Willen und geltendem Recht Langsam dämmert es nicht nur den wachen Zeitgenossen: Die Fluchtbewegung, die jetzt auch bis zu uns führt, ist kein Intermezzo, sondern wohl Vorbote künftiger massiver Migrationen – Stichwort Klimawandel. Eine knackige Herausforderung, für die humanitären Kräfte einer Zivilgesellschaft wie für ihre demokratischen Fundamente, zumal in Zeiten des viralen Alarmismus. Gut, wenn sich Experten die Lage mal gründlich ansehen. Von PIEKE BIERMANN