Gesellschaft | Regis Debray: Lob der Grenzen
Grenzen sind in Schengenland weitgehend nur als fernes, leise klingendes Echo vorhanden, wir sind modern, und manches ist eben verpönt »in diesem unserem Lande« (Helmut Kohl). Wie fügt sich da ein Titel wie der von Regis Debray, und in welcher Distanz entstehen dessen Argumente? Von WOLF SENFF
Regis Debray kämpfte an der Seite Che Guevaras, war inhaftiert, arbeitete im Beraterstab Salvator Allendes, später für François Mitterand, gefühlte Ewigkeiten ist das her. Regis Debray blickt zurück auf eine Zeit, die im Mai 1968 als die »Euphorie eines sympathischen Tohuwabohu« begonnen habe und sich heute in einem »Zustand übler Geschäftemacherei und in wirrem Exhibitionismus« befinde.
Fröhliche Urständ
So geht’s, und er ist nicht der Erste, der einen derartigen Prozess wahrnimmt. Er fragt allerdings nicht nach den Ursachen und fragt nur am Rande nach den politischen Zusammenhängen, sucht nicht nach Erklärungen aus vorhandenen Machtstrukturen, sondern fokussiert den Blick auf das Phänomen der Entgrenzung.
Debray konstatiert zunächst den merkwürdigen Widerspruch, dass nämlich, indes das Überwinden und Kappen von Grenzen ein Gebot der Zeit zu sein scheine, real die territorialen Grenzen fröhliche Urständ feiern: »Only one world summt das Showbusiness, und es gibt viermal so viele Staaten in der UNO als zu ihrer Gründung«.
Die Haut als Grenze
Viele Briten möchten demnächst ihre Grenzen per ›Brexit‹ neu gewichten. Von Frankreich trennt uns weniger eine territoriale Grenze als eine Grenze der Mentalitäten. Die Menschen dort sind leidenschaftlich auch in ihrer Empörung, entschieden im Streik, während wir geduldig sind und vorzugsweise gute Laune verbreiten, gern auch mal einen Bahnhof unter die Erde verlegen, einen Flughafen bauen oder ein Konzerthaus in die Elbe stellen.
Ein anderes Beispiel für Grenzziehungen seien etwa die Umzäunungen sakraler Bereiche, und am Beispiel der Haut als Grenze werde deutlich, dass eine Grenze nicht zwangsläufig nur trennen müsse. Die Haut fungiere als Schnittstelle zwischen Organismus und Außenwelt; ihre Aufgabe sei es, die Durchlässigkeit zu regulieren.
Eine politische Debatte?
Neu ist der aufmerksame Blick, den Debray auf die Sprache lenkt. Seine Argumentation ist ideologiefrei und darauf gerichtet, das Phänomen, in diesem Fall die Grenze, facettenreich und vorurteilslos in den Griff zu bekommen. Im Ergebnis entzieht er einer leichtfertigen Gegenwart den Boden, die sich selbstgefällig nach allen Seiten öffnen will und selbstverständliche Grenzziehungen außer Acht lässt, und wendet sich gegen diese Haltung des »Ohne-Grenzismus«.
Doch merkwürdig ist schon, worauf die Argumentation hinausläuft, und man fragt sich, inwieweit Debray zur politischen Debatte beiträgt. Zum Thema Grenze vertritt er genuin konservative Positionen. Er stellt die anerkannte, bei Bedarf auch durchlässige Grenze gegen eine Epidemie der Mauern. Das ist keine Position, über die man streiten würde. Eine politische Diskussion entstünde, sobald man Fragen nach der Umsetzung stellt: Was tun?
Das alles ist angenehm zu lesen, voller Anspielungen, voller Vergleiche mit den Zuständen in einem eher abgeschlossenen Land wie Japan, wo Regis Debray diesen Vortrag hielt, und alles in allem ein Text, der sich der Hektik der Gegenwart entzieht und, indem er sich nicht der naheliegenden politischen Debatte öffnet, den Leser zur Besinnung anhält.
Titelangaben
Regis Debray: Lob der Grenzen
Hamburg: Laika Diskurs 2016
64 Seiten, 9,80 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander