Überall Zerrissenheit

Roman | Judith Kuckart: Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück

»Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die heute 56-jährige Autorin Judith Kuckart vor zwei Jahren in einem Interview erklärt und damit schon die seelischen »Befindlichkeiten« der meisten Figuren ihres neuen, bereits achten Romans vorweggenommen.Judith Kuckarts Roman Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück rezensiert von PETER MOHR.

BelgienDie gebürtige Schwelmerin (mit Wohnsitzen in Berlin und Zürich) hat sich seit ihrem Debüt ›Wahl der Waffen‹ (1990) peu à peu weiter entwickelt und ist zu einer ganz wichtigen Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur geworden. Nicht zuletzt wegen ihrer unaufgeregten Erzählstimme und der beinahe lakonischen Sprache.

Elf Episoden mit wechselnden Personen hat Judith Kuckart – mal besser, mal weniger gut gelungen – zu einer großen Erzähleinheit verknotet. Es geht zumeist um komplizierte Beziehungen, Lebenszäsuren, Bilanzen, Neuanfänge, Hoffnungen und Enttäuschungen. Eine bleierne, melancholische Traurigkeit hüllt die Figuren ein. »Sie hatten die Regeln befolgt, aber das Glück folgte nicht«, resümiert der auf den Umgang mit Hooligans spezialisierte Polizeibeamte Sven reichlich desillusioniert die Beziehung zu seiner Partnerin Bea, einer arbeitslosen Grafikerin. Sie hatten da, wo sie wohnten, »eigentlich nichts zu suchen«.

Immer wieder gelingt es Judith Kuckart mit wenigen, sparsam platzierten Worten Lebensträume zu zerstören und die Spießigkeit im alltäglichen Denken zu demaskieren. Manches wirkt verstörend in diesem Buch, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau oder Kinder und Eltern. Die Verzweiflung und das Elend werden immer wieder durch Klavierspiel kontrastiert. Glücksmomente sind rar gesät und existieren zumeist nur in melancholischen Rückblicken, so auch auf eine kindliche Karussellfahrt in Belgien.

Gleich zum Handlungseinstieg macht uns Judith Kuckart mit einer zentralen, aber höchst ambivalenten Figur vertraut: Leonhard, ein Volkswirtschaftsstudent, der einst mit seinen Eltern aus Belgien nach Stuttgart übergesiedelt ist und in seinem Zimmer einen Kran aus Legosteinen wie eine kostbare Reliquie hütet. Er verbringt Silvester allein im Haus seiner Eltern und findet am nächsten Morgen im Flur eine fremde Frau (»tot war sie nicht, sie atmete deutlich«). Nichts ist fortan in Leonhards Leben mehr so, wie es einmal war. Das flüchtige Glück huscht wie ein Phantom durch die Handlung. Ob Marilyn und Joseph oder die beiden betagten reiselustigen pensionierten Lehrerinnen Emilie und Maria – sie alle genießen die winzigen Momente des gesteigerten Endorphin-Ausstoßes.

Bei Judith Kuckart werden die Worte nicht mit dickem Pinselstrich gemalt, sondern nur ganz behutsam und dünn mit Bleistift skizziert. Und genau darin liegt ihre Stärke. In ihrem neuen Roman hält sie uns einen Spiegel vor, zeigt uns allen (durch ihre Figuren) unsere kleinen und großen Schwächen – ungeschminkt und unbarmherzig, sodass die Lektüre bisweilen schmerzt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Judith Kuckart: Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück
Köln: Dumont Verlag 2015
220 Seiten. 19,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden für mehr Toleranz

Nächster Artikel

Literatur – ein Spiel

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Überrollt von der Macht der Menge

Roman | Juan Gabriel Vásquez: Wenn es an Licht fehlt

Obwohl ihn Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren hochgelobt hat und seine Romane schon in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez hierzulande noch weitestgehend unbekannt. In deutscher Übersetzung waren zuvor der Roman Die Reputation (2016) und die Erzählungen Lieder für die Feuersbrunst (2021) erschienen. Sein neuer Roman Wenn es an Licht fehlt verknüpft eine Familiengeschichte mit der Weltpolitik – mit dem China während der Kulturrevolution und den politisch instabilen, von blutigen Kämpfen geprägten Verhältnissen in Kolumbien. Von PETER MOHR

Fräulein Susans Gespür für Aufrichtigkeit

Roman | Peter Hoeg: Der Susan-Effekt Mit dem später von Bille August kongenial verfilmten und insgesamt über sechs Millionen Mal verkauften Roman ›Fräulein Smillas Gespür für Schnee‹ wurde der dänische Autor Peter Hoeg in den frühen 1990er Jahren weltberühmt. Danach hatte sich der öffentlichkeitsscheue Schriftsteller, der ohne Telefon und Fernsehgerät in einem kleinen jütländischen Dorf lebt, noch mit ›Die Frau und der Affe‹ (1996) und seinem geheimnisvollen Roman ›Das stille Mädchen‹ (2007) künstlerisch zu Wort gemeldet. Nun ist sein neuester Roman ›Der Susan-Effekt‹ erschienen. Von PETER MOHR

Romane waren der fehlende Rest

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Jürgen Becker Als »eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« wurde Jürgen Becker vor drei Jahren völlig zu Recht bezeichnet, als ihm der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands, verliehen wurde. Von PETER MOHR

Das gedruckte Buch lebt

Thema| Frankfurter Buchmesse 2015 Eigentlich war es wie immer. Frankfurter Buchmesse – das bedeutet wie jedes Jahr eine Unmenge von Menschen, Besuchern, Ausstellern, Autorinnen und Autoren, Presseleuten, die sich vor allem am Wochenende durch die verschiedenen Ausstellungshallen schoben. Und 2015 wurde wieder eine steigende Zahl von Besuchern verzeichnet. Eine Nachlese von HUBERT HOLZMANN

Wenn der Alltag Flügel bekommt

Roman | Rachel Ingalls: Mrs. Calibans Geheimnis Mrs. Caliban, eine verheiratete Hausfrau mit eintönigem Alltag hört Stimmen aus dem Radio, Stimmen, die von einem entlaufenen Monster berichten. Es dauert nicht lange und Dorothy lernt das »unverschämt attraktive Monster« kennen. Rachel Ingalls entführt in eine wunderbar fantasievolle und anrührende Geschichte. Von BARBARA WEGMANN