Neuschöpfung historischer Tragödien

Comic | F.Duval & J.-P. Pécau / C. Wilson: Tag X Band 1: Wer ermordete den Präsidenten?

Eine offene Limousine fährt durch die Straßen von Dallas, ein Attentäter feuert aus dem Fenster einer Bibliothek, der Tod ihres Präsidenten erschüttert die amerikanische Nation. Kommt einem bekannt vor? Allerdings schreiben wir das Jahr 1973, das Mordopfer ist nicht Kennedy sondern Nixon, und Amerika steht kurz vor einem Atomkrieg mit China. Mit ›Tag X‹ eröffnet der Panini Verlag einen Einblick in faszinierende und erschreckende Wirklichkeiten, die vielleicht hätten sein können. BORIS KUNZ lässt sich da nicht lange bitten.

DERTAGXBAND1_Hardcover_949»Was-wäre-wenn«-Wirklichkeiten haben eine lange Tradition in der Welt der Comics. Sie sind die Grundlage vieler Steampunkwelten (›Rex Mundi‹), und bei Marvel gab es schon vor der Explosion irgendwelcher »ultimativen« Alternativuniversen die beliebte Reihe mit dem Titel ›What If‹, in der ein allsehender Beobachter alternative Szenarien mit bekannten Superhelden beschrieb: Was wäre, wenn die radioaktive Spinne statt Peter Parker Jonah Jameson gebissen hätte? Oder wenn Captain America Präsident der vereinigten Staaten geworden wäre?

Die Serie ›Tag X‹ geht dieses Thema in einem etwas realistischeren und durchaus politischen Maßstab an – mit Prämissen, mit denen eher Leser mit soliden Geschichtskenntnissen als Superheldenfans etwas anfangen können. Damit erweitert der Panini-Verlag sein Programm um französische Comicalben im klassischen Albumformat.

Wie könnte es gewesen sein?

Im ersten Band ›Wer ermordete den Präsidenten?‹ geht es um das legendäre Attentat auf Präsident Kennedy. Oder eben gerade nicht, denn in der Welt, die das Autorenduo Fred Duval und Jean-Pierre Pécau beschreiben, hat dieses Attentat nicht stattgefunden: Hier wird Nixon bereits 1960 mit gekauften Stimmen zum Präsidenten gewählt, und auch die Watergate-Affäre führt nicht zum Ende seiner Präsidentschaft. Stattdessen werden Woodward und Bernstein tot aus einem Fluss gezogen. Schließlich setzt Nixon die Roosevelt-Verordnung außer Kraft, welche die Amtszeit eines Präsidenten auf eine einzige Widerwahl beschränkt, und bleibt über zehn Jahre im Amt. In dieser Zeit erleben die USA einen Rechtsruck, der die Bush-Administration vor Neid hätte erblassen lassen. Die Studentenrevolten der 68er führen zu blutigen Massakern an der eigenen Bevölkerung und der Krieg in Vietnam droht sich durch massive Provokation Chinas zu einem Weltkrieg auszuweiten.

Ein anonymer Erzähler moderiert diese Beschreibung einer alternativen politischen Geschichte der USA. Parallel dazu wird ein ganz entscheidender Tag in Dallas im Jahr 1973 erzählt: Die Polizei bereitet sich auf den Besuch des Präsidenten vor. Dabei treffen ein paar undurchsichtige Gestalten aufeinander, die nichts Gutes im Schilde führen. Einer von ihnen, der Vietnamveteran Chris French, stammt aus einer elsässischen Familie und war Mitglied der Hells Angels, ehe diese durch ein Verdikt ihres Anführers zu einer Sondereinheit nach Vietnam geschickt wurden, um dort ihrem Land zu dienen. In ausführlichen Rückblenden wird uns die Lebensgeschichte von French erzählt. Mehr und mehr verdichten sich die drei Erzählstränge zu einem spannenden Thriller, der bis zu seinem Showdown unter texanischer Sonne aufgrund seiner Schachtelstruktur mit ein paar Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Zwar wird die Geschichte durch die verschiedenen Blickwinkel facettenreicher, aber dafür wirkt der Erzählton ab und an etwas unhomogen zwischen politischer Satire und harten Thriller. Die Erzählstimme der Politik-Ebene ist zwar nicht neutral, lässt sich aber auch keinem der Protagonisten wirklich zuordnen. Die Auflösung einer strengen Chronologie der Ereignisse macht eine Lokalisierung des »Entry Points« schwierig, ab welchem neuralgischen Punkt die neue Historie von der tatsächlichen abweicht. Und letztendlich steuert die Handlung des Bandes auf einen Höhepunkt zu, der dem Leser schon von Anfang an allein durch die Wahl des Titelbildes klar ist. Spannender ist die Frage nach dem Warum. Doch hier ist die aktive Mitarbeit des Lesers gefragt.

Oder war es doch ganz anders?

DERTAGXBAND2DIEKENNEDYGANG_Hardcover_562Auch der zweite Band schildert – oberflächlich betrachtet – eine Gangstergeschichte, diesmal in Form eines Roadmovies: Zwei Brüder, Söhne eines einflussreichen Schmugglers, wollen einen Lastwagen voller Alkohol durch ein geteiltes Amerika transportieren, von New Orleans in Neu-Frankreich bis nach New York, das zum scheinbar wesentlich kleineren Neu-England gehört. Denn in dieser Welt ist der Krieg zwischen den Kolonialmächten anders verlaufen, so dass sich durch den nordamerikanischen Kontinent die dicke Trennlinie »unvereinigter Staaten« zieht: Auf der einen Seite die demokratischen Engländer, die auch im Jahr 1947 noch in der Prohibition leben und sich nicht in die Kriege auf dem europäischen Kontinent einmischen wollen, auf der andren Seite Neu-Frankreich, dessen Eingreifen in Europa den ersten Weltkrieg beendet hat, wo der Alkohol ebenso erlaubt ist wie die Sklaverei (unter einem kümmerlichen Deckmantel vertraglicher Legalität), wo allerdings auch die Indianerstämme gleiche Rechte wie die Bürger haben, und man es als blutrünstiger Irokesenhäuptling schon mal zum Sheriff von New Orleans bringen kann. Für zwei irischstämmige Gangster ein hartes Pflaster, noch dazu wenn sie wegen Mordes gesucht werden.

Und diese beiden irischen Brüder sind keine anderen als »Joe« und »Jack« Kennedy. Ihr Vater, Joseph Patrick Kennedy ist nicht nur Teil des Gangstersyndikats, dem auch Al Capone angehört, sondern kandidiert auch neben Charles Lindbergh um die Präsidentschaft von Neu-England. Und während in Neu-Frankreich die Schwarzen noch immer als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, hat auf dem heimatlichen Kontinent eine uns wohlbekannte politische Macht das Ruder ergriffen: In Deutschland regiert ein gewisser Kanzler Namens Hitler – dessen Politik man wiederum in manchen Teilen des geteilten Amerika durchaus nicht unfreundlich gegenübersteht…

Wie könnte es noch werden?

Von kleineren dramaturgischen Schwächen abgesehen sind die Alben gut und dicht geschrieben und von Colin Wilson hervorragend gezeichnet. Wilson ist ein alter Hase im Comicbetrieb und war unter anderem einer der Zeichner von ›Blueberry‹. Er inszeniert auch diese Politthriller und Roadmovies wie Western: Mit markigen Männern, stimmungsvollen Settings und einem guten Gespür für Dramatik. Wilsons Strich ist klassisch ohne altmodisch zu wirken, detailverliebt und schwungvoll, beste französische Schule eben, ein Abkömmling des großen Jean Giraud.

Auch wenn der Grundton der Geschichten sehr düster und sarkastisch ist, bleibt der Comic insgesamt doch eher ein lockeres Spiel mit bekannten Motiven als ein perfekt durchkonstruiertes politisches Lehrstück. Man könnte der Story in Band 1 den Vorwurf machen, das Versprechen ihrer Prämisse relativ oberflächlich einzulösen. Letztendlich ist dieser Band von ›Tag X‹ nur bis zu einem gewissen Grad die konsequente Beschreibung einer alternativen Realität. Sie bildet nur den Hintergrund für einen Politthriller, der sich zwar nicht an reale Gegebenheiten halten muss, letztlich aber doch hauptsächlich von der Durchführung eines Attentates und der Lebensgeschichte des Attentäters erzählt. Und als solcher funktioniert der Comic sehr gut.

Abb: Panini
Abb: Panini
Doch während man bei einer Geschichte rund um das Attentat von Dallas auf die politischen Implikationen wartet, ist man in der Schmuggler-Geschichte eher erstaunt darüber, wie stark diese Themen sind. Voller geistreicher Anspielungen auf Personen der Weltgeschichte offenbart der zweite Band noch viel mehr den Reiz der Alternativwelten, obwohl – oder gerade weil – er die großen politischen Themen im Hintergrund einer scheinbar simplen Gangsterstory immer wieder auftauchen lässt. Was daherkommt wie eine Variante von ›Lohn der Angst‹ (diese Anspielung ist nicht zufällig gewählt) erzählt eigentlich auf geschickte Art und Weise das Verhältnis des Einwanderungslands Amerika zu seinen kolonialen Wurzeln und zum »alten Europa«. Wenn dabei Marilyn Monroe und John F. Kennedy in einer Bordellschießerei ums Leben kommen, dann ist das wirklich eine aufregende Art, über Geschichte nachzudenken.

Allein ein Blick auf die Titelbilder der bisher in Frankreich erschienen 22 Bände (›Wer ermordete den Präsidenten?‹ ist dort übrigens Band 5, ›Die Kennedy-Gang‹ Band 10) lässt allerdings noch auf eine ganze Menge mehr hoffen. Von der russischen Mondlandung bis zur Atombombenexplosion in Texas oder einem Sieg der Deutschen im ersten Weltkrieg: Die teilweise wechselnden Autoren von ›Jour J‹ haben sich noch eine ganze Menge weiterer solcher Thriller ausgedacht. Die Bandbreite reicht weit zurück zum Sandalenepos oder zu Welten, die fast schon etwas retrofuturistisches haben. Das lässt hoffen, dass es diese vielversprechende Serie in ihrer Gesamtheit auf den deutschsprachigen Markt schafft. Das ist in der Geschichtsschreibung unseres Universums ja nicht immer eine Selbstverständlichkeit …

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Fred Duval & Jean-Pierre Pécau (Szenario), Colin Wilson (Zeichnungen): Tag X Band 1: Wer ermordete den Präsidenten? (Jour J 5: Qui a tué le président?)
Band 2: Die Kennedy-Gang ( Jour J 10: Le gang Kennedy)
Aus dem Französischen von Horst Berner
Stuttgart: Panini Comics 2015
Band 1: 56 Seiten, 13,99 Euro
Band 2: 64 Seiten, 14,99 Euro
| Erwerben Sie Band 1 portofrei bei Osiander
| Erwerben Sie Band 2 portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Homepage von Colin Wilson
| Spannende Übersicht über die komplette Reihe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vollbeschäftigung in L.A. – Xenoblade Chroniken

Nächster Artikel

Folkdays aren’t over: Songwriting, Pop, Protestsong oder Mélange, was soll es sein?

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Auf dem Weg in den Pophimmel

Comic | Reinhard Kleist: Starman

David Bowie ist als Pop- und Rockstar eine Legende, mit seinem androgynen Look und seinen psychedelisch anmutenden Liedern hat er sich einen festen Platz im Pophimmel und in den Herzen seiner Fans erspielt. Der Auftritt mit schrillen Haaren und den bunt schillernden Kostümen des aus dem All auf der Erde gelandeten Ziggy Stardust machte Bowie bekannt – und verlieh ihm eine Bekanntheit, die bis heute anhält. Reinhard Kleist zeichnet in seiner Graphic Novel ›Starman‹ die frühen Jahre David Bowies in London nach. Von FLORIAN BIRNMEYER

Der durch die Hölle ging

Comic | Jaques Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangener Im Stalag IIB Der französische Comic-Künstler Jaques Tardi und der Krieg – ein schier endloses Kapitel an historischer und persönlicher Aufarbeitung, stets in formaler und narrativer Meisterklasse. In ›Ich René Tardi, Kriegsgefangener Im Stalag IIB‹ zeichnet er in zwei Bänden, denen anscheinend noch ein dritter folgt, das Leid seines Vaters nach – und zeigt sich in Sachen pathosfreier Nachempfindung des Unnachahmlichen stärker denn je. Von CHRISTIAN NEUBERT

We need to talk about Fight Club

Comic | Chuck Palahniuk (Autor), Cameron Stewart (Zeichner): Fight Club 2 – Buch 1 Wer ›Fight Club‹ kennt, wird sich fragen, wie eine Fortsetzung dieses Stoffes überhaupt denkbar ist. Wer ›Fight Club‹ nicht kennt, sollte augenblicklich aufhören, diesen Text und lesen und stattdessen seine Bildungslücke füllen. Danach wird er sich vermutlich dieselben Fragen stellen, wie BORIS KUNZ: Verkraftet diese Story eine Fortsetzung?

Feindliche fremde Heimat

Comic | Hector Germán Oesterheld / Francisco Solando López: Eternauta Erstmals in den Jahren 1957 bis 1959 erschienen, ist der argentinische Fortsetzungscomic ›Eternauta‹ von Hector Germán Oesterheld und Francisco Solando López eng an das spätere Schicksal seines Autors geknüpft: Oesterheld fiel der argentinischen Militärdiktatur zum Opfer. Die deutsche Erstveröffentlichung im Avant-Verlag würdigt das Werk mit einer opulenten Aufmachung. Es ist auch abseits seiner unfreiwilligen Metaebene ein starkes Stück. Von CHRISTIAN NEUBERT

Fragmente der Abwesenheit

Comic | Antonia Kühn: Lichtung Der kleine Paul kann sich kaum an den ein paar Jahre zurückliegenden Tod seiner Mutter erinnern. Gibt es eine Lichtung im Schatten der Erinnerung? In ihrer ersten größeren Comicerzählung ›Lichtung‹ blickt Antonia Kühn einfühlsam und vielschichtig unter den schwarzen Schleier, der die Erinnerungen des kleinen Paul und seiner Familie trübt. Von BIRTE FÖRSTER