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Comics | Dominique Goblet: So tun als ob heißt lügen

Mit ›So tun als ob heißt lügen‹ liegt beim Avant Verlag ein außergewöhnlicher autobiographischer Comic neu in deutscher Übersetzung vor. Der belgischen Comic-Künstlerin Dominique Goblet gelingt damit ein intimes Zeugnis, das viel preisgibt, ohne geschwätzig zu sein. Indem er einen auf der Gefühlsebene packt. Und dabei blendend aussieht. Von CHRISTIAN NEUBERT

Dominique Goblet: So tun als ob heißt lügen.Es sind nur ein paar Schritte draußen auf dem Gehsteig. Wohin? Man weiß es nicht. Man weiß nur, dass hier eine Mutter mit ihrer Tochter unterwegs ist. Und dass sie ihr Kind, es ist im Kindergarten- oder Grundschulalter, fantasievoll umsorgt. Weil offenherzige Wärme aus den Bildern strahlt, die die Szene illustrieren. Dafür genügen der belgischen Künstlerin Dominique Goblet vier Comicseiten. Das Kind, das ist sie selbst. Eine flüchtige, vermeintlich banale kleine Kindheitserinnerung reicht ihr aus, um ganze Gefühlswelten auszuloten. Und sie mit einfachen, kunstfertigen Strichen bewegend und wahrhaftig werden zu lassen. Eine starke Eröffnung eines starken autobiographischen Comics mit dem Titel: ›So tun als ob heißt lügen‹.

Der Comic, ursprünglich 2007 veröffentlicht, liegt nun in deutscher Übersetzung beim Berliner Avant Verlag vor. Er fällt mit der Tür ins Haus. Dennoch öffnet er sie nur ein kleines Stück weit. Und gibt einem trotzdem das Gefühl, weitaus tiefer blickende Einsichten zu gewähren. Indem seine Autorin die Gefühlsebene von persönlichen Erinnerungen ernst nimmt, sie isoliert betrachtet und dann doch in Bezug zueinander setzt.

Kann Wahrheit in Lügen liegen?

In der Eingangsszene wendet ihre Mutter eine kleine Notlüge an. Sie »tut als ob«, um ihr Kind kreativ und effektiv zu trösten. Dass da aber noch mehr ist außer Liebe und Zuneigung, dass die eingangs geschaffenen Gefühlswelten düstere Winkel kennen: Als Leser erfährt man es später. Nachdem Goblet als junge Erwachsene, selbst Mutter einer Tochter, nach Jahren ohne jeglichen Kontakt auf ihren alkoholkranken Vater trifft. Wieder eine bedeutsame Episode aus dem Leben der Künstlerin – erneut kunstvoll und ausdrucksstark umgesetzt. Zwischen diesen Kapiteln liegen nicht nur erzählte Jahre, sondern auch wirkliche. Goblet saß lange an dem Werk, insgesamt zwölf Jahre. Sie hat ihn zugunsten anderer Arbeiten ruhen lassen, erst viel später angefangen, die ersten Seiten als Einleitung eines autobiographischen Comics herzunehmen.

Die Bilder in ›So tun als ob heißt lügen‹ tragen die Patina ins Gedächtnis zurückgerufener Erinnerungen. Obgleich bruchstückhaft, sind sie minutiös geschildert. Dass sie sehr wohl überhöht und aufgeladen sind und dass inneres und äußeres Erleben in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen, stellt für die Belgierin keinen Widerspruch dar, wenn es ihr darum geht, Kontexte zu schaffen. Denn beinahe scheint es, dass der Zeichenstift bei ihr zum Medium wird, das die Geister ihrer Vergangenheit beschwören kann, um sie greifbar zu machen.

Wer tut hier nicht, als ob?

Goblet wendet unterschiedliche Techniken zum Ausgestalten von Emotionen und Stimmungen an, nutzt Bleistift und Ölfarbe. Ihre Zeichnungen sind dabei nicht nur expressiv, sie sind impulsiv. Und das auch im übertragenen Sinne. So inszeniert sie ihren Vater, der sich bei ihrem Treffen als Unschuldslamm, Wohltäter, Gönner und Könner aufspielt, an einer Stelle zur Ikone. Inklusive passender Typografie; ihr Handlettering funktioniert immer auch auf der Bildebene.

Und wenn er darüber schimpft, dass seine Frau, Goblets Mutter, ihn wegen einem anderem verlassen hat, dann wachsen ihm, dem Gehörnten, tatsächlich Hörner. Ein bisschen wie ein Esel schaut er dann aus. Aber nur zunächst. Weil Hörner auch den Teufel in einem durchblicken lassen können.

Dominique Goblet: So tun als ob heißt lügen

Wie diese scheinbar losen Kapitel dysfunktionaler Familienverhältnisse zusammenhängen, wie sie auf die weiteren Episoden einwirken, in der sie von einer Liebschaft erzählt, die vom Geist einer anderen Beziehung überschattet wird, mit der ihr Partner noch nicht abgeschlossen hat, das erlebt man am besten selbst. Alleine schon, weil die Lektüre von ›So tun als ob heißt lügen‹ ein Erlebnis ist, das enorm viel aus der dem Medium Comic eigenen Verschränkung von Wort und Bild schöpft.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Dominique Goblet: So tun als ob heißt lügen
Aus dem Französischen von Annika Wisnieswki
Berlin: Avant Verlag 2017
148 Seiten, 29,95 Euro
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