Comic | Alexis Nesme: Die Kinder des Kapitän Grant
Der Französische Comickünstler Alexis Nesme hat mit Die Kinder des Kapitän Grant einen Roman von Jules Verne mit Tierfiguren adaptiert – und es damit auf wunderbare Weise geschafft, das Gefühl wieder lebendig zu machen, das man als Jugendlicher bei der Lektüre von Abenteuergeschichten hatte. BORIS KUNZ ist ganz hin und weg bei so viel Nostalgie …
1864 vor der Küste Schottlands: Bei der Jungfernfahrt seiner neuen Dampfyacht Duncan entdeckt Edward Glenarvan, ein schottischer Pair, im Bauch eines Hammerhais eine Flaschenpost. In ihr: ein verwitterter Hilferuf eines vor zwei Jahren verschollenen Hochseekapitäns (der titelgebende Kapitän Grant), der darin in drei verschiedenen Sprachen seine Position nach der Havarie seines Schiffes angibt. Leider sind die Nachrichten nur noch schwer lesbar. Die gesamte Botschaft muss aus den Überresten der drei Zettel zusammengepuzzelt werden, Irrtümer bei der Interpretation unvollständiger Worte nicht ausgeschlossen. Ein Glück für Grant, dass seine Flaschenpost an einen wahren Nobelmann geraten ist, der die Lösung des Rätsels gleichermaßen als Bürgerpflicht und sportliche Herausforderung anpackt. Alsbald startet dieser gemeinsam mit seiner Verlobten, seinem treuen Gefährten Mac Nabbs und den halbwüchsigen Kindern des Kapitäns eine Rettungsmission, ohne sich von der Aussicht schrecken zu lassen, dass verschiedene Lesarten der Botschaften zu einer Reise rund um den Globus führen könnten. Praktischerweise hat sich noch ein Kartograph irrtümlich auf die Duncan verirrt, dem auf der abenteuerlichen Fahrt nach Südamerika fürderhin die Position des Erklärbären zufällt.
Eine Comicadaption eines Romans von Jules Verne, einem der Vorväter des Steampunk: Das gehört natürlich in den Splitter-Verlag. Doch das Cover des ersten Bandes von Die Kinder des Kapitän Grant zieren keine aufregenden dampfbetriebenen Luftschiffe. Stattdessen begegnen einen, malerisch in eine dramatische Berglandschaft drapiert, ein Tiger, ein Kater, ein Bär, eine Möwe und ein Frosch, angetan in der Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ein Tierfunny also – vermutlich dann eher für ein jüngeres Publikum?
Vom Humanismus der Papiertiger
Mitnichten. Die erstaunliche Wirkung, die Autor und Zeichner Alexis Nesme mit den anthropomorphen Tieren erzielen, ist nicht die Reduzierung eines Klassikers auf das Niveau eines Lustigen Taschenbuchs. Vielmehr trägt Nesme damit der Tatsache Rechnung, dass die Romane von Jules Verne nun einmal weniger durch besonders vielschichtige oder gebrochene Hauptfiguren mit großer psychologischer Tiefe berühmt geworden sind, sondern durch phantasievolle Geschichten. Mal ehrlich: Abgesehen von Nemo, dem legendären Kapitän der Nautilus – wer könnte sich zwar nicht mehr an den Plot, wohl aber noch an die Figuren der Jules Verne Romane erinnern, die er gelesen hat?
Es sind Stereotypen: Ein vermögender Adliger, der lediglich der noblen Herausforderung und eines als selbstverständlich empfundenen Humanismus wegen Zeit und Geld in die Rettungsaktion für einen verschollenen Fremden investiert, um auf der Suche nach dem Unbekannten die Welt zu umrunden – wo gibt es so etwas schon, wenn nicht in alten Abenteuerromanen und modernen Comicadaptionen derselben? Glenvaran könnte auch Phileas Fogg heißen – und er kann eben auch genauso gut ein Tiger sein!
Insofern passen sowohl die Tiergestalten der Figuren als auch das Artwork des Comics auf die Vorlage wie die Faust aufs Auge. Sie sind wie ein liebevoller Kommentar zu der Tatsache, dass die Romane von Jules Verne, trotz seines Beharrens auf geographische oder physikalische Gelehrtheit, vor allem Kolportage sind – phantasievolle Gedankenspiele, deren Protagonisten in der argentinischen Pampa von einer Sturmflut überrascht werden, mehrere Tage auf einem großen Baum inmitten eines Wassermeers überleben, von Blitzschlag und Kaimanen bedrängt und von einer Windhose gerettet werden. Sprechende Tiger und Frösche sind da kein Stilbruch.
Ölgemälde im Briefmarkenformat
Auch die grafische Gestaltung versprüht eine liebenswürdige Nostalgie. Sie orientiert sich eher an alten Steiffpuppen aus der Zeit der Handlung als an modernen Zeichentrickfiguren. Überhaupt ist der ganze Comic eine Augenweide. Manche Seiten wirken wie ein Arrangement mehrerer kleinformatiger Ölgemälde. Jeden Millimeter ausnutzend füllt Nesme (der in Frankreich übrigens auch Briefmarkenmotive gestaltet) die Seiten mit Gebäuden und Segelschiffen, mit Landschaften, Wolkenformationen und Sonnenuntergängen. Das alles ist ebenso wenig naturalistisch wie die Tierköpfe. Aufgrund der stimmigen, stimmungsvollen Welt, die Nesme hier erschafft, fällt einem dies jedoch erst beim zweiten Blick auf.
Viele Comic-Buchdeckel versprechen es, dieser Band hält es ein – Die Kinder des Kapitän Grant ist eine Liebeserklärung an Jules Verne und an alles, was bei diesem Namen heute noch mitschwingt: Das Abenteuer, die Ferne, das Reisen, die Gelehrsamkeit und die Nostalgie. Insofern ist dies kein Comicalbum für Jugendliche, an dem auch Erwachsene Spaß haben können, sondern eher eines für Erwachsene, die sich das Kind-Sein bewahrt haben – und die eine kunstvolle Ausarbeitung wirklich zu schätzen wissen. Jüngeren Lesern kann man das Album aber ebenfalls in die Hand geben.
Wer ein Herz für Comics wie Mit Mantel und Degen (die Reihe hat gerade im Carlsen Verlag ihren Abschluss gefunden) oder die klassischen Abenteuer der Familie Duck aus der Feder der Meister Carl Barks und Don Rosa hat, der wird sicherlich auch an diesem bezaubernden Werk etwas finden.
| BORIS KUNZ
Titelangaben
Alexis Nesme (Text und Zeichnungen): Die Kinder des Kapitän Grant (Les enfants du Capitaine Grant). Nach Jules Verne
Aus dem Französischen von Resel Rebiersch
Bielefeld: Splitter Verlag 2013
48 Seiten, 13,80 €
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