Dass Monster auch nur Menschen sind, ist spätestens seit Frankenstein in Literatur und Popkultur ein gängiges Thema. Was aber, wenn die Graustufen zwischen Gut und Böse bis in die Antike reichen? Eine moderne Debatte über Opferdasein, Schuld und das Spiel höherer Mächte führt ›Medusa und Perseus‹ und schöpft die Möglichkeiten der griechischen Sage aus. Von JULIA JAKOB.
Mythologie 101 – Wer erzählt hier was?
Der Mythos der Medusa ist vermutlich fast jedem und jeder bekannt. Held – Perseus – muss unmögliche Aufgabe lösen; Aufgabe ist es Monster – Medusa – zu töten; töten ist nicht einfach, ergo bekommt er Hilfe von Göttin – Athene. So weit, so bekannt. Aber ist es wirklich so geschehen oder wurden hier Tatsachen weggelassen, vertuscht, ins rechte Licht gerückt? Hat hier der Sieger die Geschichte geschrieben oder war es doch alles ganz anders?
André Breinbauer schreibt in seiner Debüt-Graphic Novel über die beiden Seiten der Geschichte: Medusa und Perseus. Schon die Haptik des Buches zeigt deutlich, dass es immer zwei Seiten der Medaille gibt: Es kann gewendet, besser gesagt auf den Kopf gestellt, und von zwei Seiten gelesen werden. Der Held der Geschichte muss zunächst warten, denn erst ist Medusa an der Reihe ihre Geschichte aus einer Perspektive zu erzählen, die nicht von oben herab aus dem Olymp auf das Geschehen schaut.
Nicht alle Schlangen beißen
Erzählt wird die Vorgeschichte Medusas, welche die Schlangenkönigin als selbstbestimmtes Opfer der Umstände zeigt. Es wird ein Raum für Nuancen und eine Erklärung geschaffen, weshalb die Frau zu einem Monster wurde. Denn tragischerweise wurde Medusa ihre Menschlichkeit durch die Göttin geraubt, der sie eigentlich ihr Leben widmen wollte: Παλλὰς Ἀθηνᾶ – Pallàs Athene.
Von ihrer eigenen Schutzpatronin verraten und verflucht, flüchtet Medusa in die Einsamkeit und durchläuft dabei alle Phasen der Trauerverarbeitung. Sie will die Ungerechtigkeit der Dinge nicht wahrhaben und läuft davon: Weg von dem Verrat der Göttin, der Gewalt [TW: Sexualisierte Gewalt], ihrer neuen Erscheinung, ihrer neuen Macht und ihrem eigenen Kind. Jedoch kann sie sich ihrem Schicksal nicht entziehen und reagiert mit Trauer. Sie sucht nach einem ruhigen Ort, um alles zu verarbeiten, jedoch findet sie keine Ruhe vor den Blicken der Männer und die Depression schlägt in Wut um.
Breinbauer lässt für diesen emotionalen Teil die Bildgewalt der Graphic Novel für sich sprechen und gibt der Figur Raum, ihre Vergangenheit mit eigenen Worten und Bildern nachzuerzählen. Die Sexualisierung bis hin zur körperlichen Gewalt muss sie, aufgrund ihres schrecklichen Aussehens und ihrem versteinernden Blick, nicht mehr erdulden und beginnt so, ihre neue Gestalt als Gabe und Geschenk zu akzeptieren. Diese schwierige Reise lässt den Lesenden mit Medusa mitfühlen, denn sie wird nicht als Monster, sondern als Überlebende portraitiert, die gelernt hat, mit den Schlangen zu leben – und zu sterben.
Wie auch die antike Erzählung endet alles mit Medusas Tod! So viel kann schon verraten werden. Doch die Graphic Novel ist hier nicht vorbei, denn ein neuer Charakter schleicht sich ins Bild: Perseus.
Der Stoff, aus dem Helden sind
Perseus ist zu Beginn seiner Geschichte noch lange kein Held, sondern vielmehr ein Junge, der in seinen sicheren Tod geschickt wird. Fest entschlossen beginnt er seine Reise mit dem Ziel, diese Medusa zu töten – wer auch immer dieses Monster sein soll! Erst durch die Begegnung mit dem Schäfer Dimos erfährt Perseus über seine Vergangenheit. So ist er allem Anschein nach Sohn des Zeus, ein verstoßener Prinz und Opfer einer Erpressung durch König Polydektes. Wenigstens schenkt ihm Dimos einen goldenen Schild, verziert mit einer Eule (War die nicht auch bei Medusa zu sehen?).
Perseus zieht weiter und begegnet einigen – weiblichen – Figuren der griechischen Mythologie auf seinem Weg. Alle bringen ihn auf seinem Weg zu Medusa ein Stück weiter, manche beschenken ihn sogar mit mehr Gold, als der Vorpubertäre tragen kann. Endlich gelangt er, über… ehm… BEwacht durch die Eule auf seinem Schild, auf Medusas Insel. Sein Ziel hat sich nicht verändert. Doch ob seine Entscheidung richtig ist, kann nur eine wissen.
Alte Geschichte in neuem Gewand
Schon Siegmund Freud hat den Mythos der Medusa erneuert und in seinen Sexualtheorien verarbeitet, auch wenn diese Interpretation fraglich bleibt. André Breinbauer geht den feministischen Weg – mit Erfolg, wie ich finde. Der Zeichenstil der Graphic Novel und die gewählte Typografie bilden eine gelungene Mischung aus antik anmutenden Symmetrien und kantigen Gestalten mit modernen Elementen. Emotionen werden gezeigt bzw. gezeichnet, was ihnen eine tiefe Bedeutung verleiht und beim Lesen berührt, vielleicht sogar wachrüttelt.
Dabei wird nichts weggelassen oder indirekt suggeriert, sondern direkt als Bild festgehalten – wie unvorteilhaft der Blickwinkel auch sein mag. Die Symbolschwere der Mythologie ist auch ein Teil der Zeichnungen und erlaubt noch tiefere Einblicke in das Schicksal der Helden, Monster und Puppenspieler. Letztendlich jedoch müssen alle Masken fallen und das freigeben, was darunter liegt.
Über einen Charakter hätte ich gerne noch ein wenig mehr erfahren. Aber das kann auch sehr gerne in einer Fortsetzung erledigt werden. 🦉
Titelangaben
André Breinbauer: Medusa und Perseus
Vorwort: Eva Steindorfer
Hamburg: Carlsen Verlag, 2022
288 Seiten, 26,00 Euro
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