Das Leben ist eine Landstraße

Comic | Alfred: Come Prima

Alfreds ›Come Prima‹ ist ein Comic gewordener Road Movie, der einen anhand der Geschichte zweier ungleicher Brüder mit gemächlichem Tempo ins Frankreich der 50er überführt – und sich unweigerlich in die Herzen seiner Leser manövriert. Von CHRISTIAN NEUBERT

GT140188-Reprodukt-ComePrima-Vaks-RasterProofDie späten Fünfziger, irgendwo in Frankreich: Fabio schlägt sich durch, im wahrsten Sinne des Wortes. Als Amateurboxer verdient er sich ein paar Kröten zu jenem Auskommen dazu, für das er vermutlich ebenfalls hin und wieder seine Fäuste gebraucht, wenn auch auf weniger sportliche Weise. Entsprechend hält es Fabio, den sein Tun zu einem Getriebenen gemacht hat, nicht lange an einem Ort: Seit vielen Jahren führt er das Leben eines Streuners, eines Herumtreibers. Seit jenem Tag, an dem er als 17-jähriger seinem italienischen Heimatdorf sang- und klanglos den Rücken kehrte.

Sein jüngerer Bruder Giovanni konnte ihn trotzdem ausfindig machen. Unterwegs in einem klapprigen Fiat 500 taucht er auf, um Fabio zur Rückkehr zu überreden. Sein Gepäck besteht lediglich aus einer Urne mit der Asche ihres Vaters. Fabio soll mitkommen, um die Asche gemeinsam mit ihm in die Heimat zu überführen. Er ist widerwillig, aber das Auto ist Bestandteil des Erbes. Also machen sich die ungleichen Brüder gemeinsam auf den Weg …

Auf die Straße …

›Come Prima‹ ist ein Road Comic, das gezeichnete Pendant eines Road Movies. Und so, wie Road Movies anhand des Unterwegs-Seins die inneren Reisen ihrer Protagonisten erkunden, zeichnet ›Come Prima‹ Stück für Stück die Geschichte der beiden Brüder und ihrer Familie nach, deren Ausläufer bis ins faschistische Italien zurückreichen. Jeder zurückgelegte Kilometer entwirrt die verschlungenen Pfade jener Geschehnisse, die ihre Familie zu einer Zeit zerrissen haben, in der sie noch Kinder waren.

Die Route von Fabio und Giovanni führt sie über einsame Landstraßen, entlang von malerischen Küsten, durch das spiralförmige Auf und Ab der Serpentinen. Dass sich die Autofahrt an Begegnungen mit skurrilen Personen und denkwürdigen Geschehnissen entlang hangelt, geschieht notwendigerweise angesichts der Aufarbeitung ihrer beiden Lebensläufe. Leitmotivisch ziehen sich dabei einige wiederkehrende Bilder durch den Comic, die als Bruchstücke von Erinnerungen nach und nach ein komplexes Ganzes ergeben.

… und zurück in die Vergangenheit

Diese Bilder, die Episoden aus der Vergangenheit in den Köpfen der Brüder fixieren, sind holzschnittartig realisiert, um der Statik vergangener, in der Erinnerung verblasster Eindrücke zu entsprechen. In ihrer farblichen Reduzierung bilden sie einen Gegenkontrast zum farbenprächtigen Jetzt und Hier des mediterranen Raums der späten Fünfziger. Das Rot, das sich während des Sonnenuntergangs über die weiten Felder legt, der blaue Himmel, aus dem die gelbe Sonne sengend heraus strahlt, der Halbschatten maroder Häuserfassaden, die nur langsam vorüberziehenden Wolken: Alfred leistet ganze Arbeit, um das ländliche Frankreich und später dann Italien zu einem Leben zu erwecken, in dem auch die stilisierten Figuren als reale Persönlichkeiten greifbar werden.

›Come Prima‹ ist eine leise Geschichte, die ihren Sog nach und nach entfaltet. Das Leben ist hier keine Autobahn – die befinden sich in Deutschland, hinter den Alpen, dort, wo das Wirtschaftswunder prächtiger gedeiht und Italientouristen gebiert. Nein: In Alfreds Italien der späten Fünfziger ist das Leben eine Landstraße. Es geht gemächlich voran, weswegen die Möglichkeit, zurückzukehren, nie wirklich hinter einem unüberwindbaren Horizont verschwindet – auch, wenn man diese Möglichkeit vergessen, aus den Augen verloren hat. Schön, dass einen ›Come Prima‹ auf denkbar schöne Weise daran erinnert. Beim letztjährigen Internationalen Comicfestival in Angoulême wurde der Comic mit dem Preis für das beste Album prämiert. Es war Alfreds erstes in Eigenregie verwirklichtes Werk – und hoffentlich nicht sein letztes.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Alfred: Come Prima.
Aus dem Französischen von Volker Zimmermann
Berlin: Reprodukt 2014
224 Seiten, 34 Euro

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