Comic | Francisco Sánchez, Natacha Bustos: Tschernobyl – Rückkehr ins Niemandsland
Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, kam es in der Nähe einer aufstrebenden, jungen Kleinstadt im Norden der Ukraine zu einem Unfall, der sich als Trauma in das kollektive Bewusstsein der Menschheit eingebrannt hat – zumindest in Russland und Europa: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Warum es ausgerechnet zwei Spanier sind, die sich mit der Graphic Novel ›Tschernobyl – Rückkehr ins Niemandsland‹ an die Aufarbeitung dieses Traumas wagen, sei dahingestellt. BORIS KUNZ hat sich dem Werk gewidmet.
Im Gegensatz zu manch anderer Katastrophe, ob die einstürzenden Twin Towers, die sinkende Titanic oder diverse Sturmfluten, scheint es recht wenig narrative Aufarbeitungen der Reaktorkatastrophe zu geben: Tschernobyl ist nicht der Stoff für Katastrophen-Blockbuster oder TV-Event-Movies. Was ist der Grund dafür? Die generelle Unsichtbarkeit der Verstrahlung, die ja nicht als gigantische Wolke am Himmel auf die Menschen zurollt, und deren Folgen sich erst Wochen, Monate, Jahre später zeigen? Das Fehlen von Heldenfiguren, die in letzter Sekunde ihre Familie vor der Katastrophe in Sicherheit bringen konnten oder wie durch einen Fingerzeig Gottes inmitten des Chaos überlebten? Beides trifft nicht unbedingt zu. Wie der Comic ›Tschernobyl – Rückkehr ins Niemandsland‹ beweist, mangelt es auch dieser Geschichte weder an eindrucksvollen visuellen Motiven noch an aufopferndem Heldenmut einiger weniger.
Doch glücklicherweise interessiert sich der Comic nicht so sehr für malerische Dramatik und große Gesten. Er wirft seinen Blick eher auf die kleinen, alltäglichen Geschehnisse. Der Autor Francisco Sanchez, langjähriger Comicredakteur und Kinderbuchautor zu Umweltschutz-Themen, erzählt anhand einer kleinen Familie exemplarisch und auf mehreren Zeitebenen vom Umgang der ganz normalen Menschen mit der Katastrophe – und damit eher beiläufig vom Versagen der Behörden oder vom tragischen Heldentod der Liquidatoren, die ihr Leben und ihre Gesundheit opferten, um in den ersten Stunden und Tagen nach der Katastrophe die Strahlung einzudämmen und das Schlimmste zu verhindern.
Sanchez erzählt von der generellen Unfähigkeit der Menschen, angemessen auf eine wahrhaftige Katastrophe zu reagieren – die man komplett selbst verschuldet hat. Die Illustratorin Natacha Bustos hat diese Erzählung in sehr einfachen, bodenständigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen umgesetzt, die ihren Zweck erfüllen.
Die Beiläufigkeit des Horrors
Der junge Familienvater Wladimir hat Arbeit im Atomkraftwerk und lebt mit seiner Frau Anna und seinen Kindern Yuri und Tatjana in Prypjat, einer frisch aus dem Boden gestampften sowjetischen Prestige-Kleinstadt für die Angestellten des Kraftwerks, dessen niemals fertiggestellter Vergnügungspark heute als besonders trauriges Mahnmal der Katastrophe fungiert. Wladimir wird an diesem tragischen Samstag Dienst im Kraftwerk haben und die Explosion des Reaktors aus nächster Nähe miterleben. Aus der Sicht von Anna, die erst tagelang hingehalten und schließlich mit ihren Kindern unvermittelt in einen Bus verfrachtet wird, erleben wir die Evakuierung der Stadt.
Dies ist der beeindruckendste Teil der Erzählung. Hier finden sich beängstigende, gruselige Momente, die viel besser als jede große Geste begreifbar machen, was für eine ungeheure Sache dort geschehen ist: Da verlässt ein Bus voller Frauen und Kinder die Stadt, in der sie nach der Katastrophe noch tagelang ihren Alltag zugebracht haben – und auf den LKW, die ihnen an der Stadtgrenze entgegenkommen, sitzen lauter Menschen mit Gasmasken und Strahlenschutzanzügen, ohne die man diese Stadt eigentlich nicht mehr hätte betreten sollen.
Dann sind da Leonid und Galia, Annas Eltern, die zeit ihres Lebens einen winzigen Bauernhof in der Gegend betreiben. Sie werden einige Zeit nach der Evakuierung in die Sperrzone zurückkehren und auf ihrem Land weiterleben. Weil sie es nicht anders kennen, weil sie sich woanders nichts mehr aufbauen können – und weil ihnen ihr altes Leben wichtiger ist, die Sehnsucht nach Beständigkeit größer, als die Angst vor der Verstrahlung, deren Wirkung sich erst ganz langsam in ihrem Leben ausbreiten wird. Diese Passage erzählen Bustos und Sánchez ruhig und einfühlsam, mit viel Gespür für kleine Momente.
Yuri und Tatjana, zum Zeitpunkt der Katastrophe noch Kinder, werden am Schluss des Buches in die ehemalige Todeszone zurückkehren, zu den Ruinen von Tschernobyl und Prypjat, um sich dort mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dieser Teil erinnert stark an ein anderes Comicalbum, das sich mit dem Thema auseinandersetzt und das man an dieser Stelle jedem interessierten Leser auch unbedingt ans Herz legen sollte: Emmanuel Lepages Reisereportage ›Ein Frühling in Tschernobyl‹. Schließlich finden sich teilweise die gleichen Motive in beiden Alben, die einmal von dem zeichnenden Reporter Lepage und einmal von den fiktiven Figuren Yuri und Tatjana besucht werden: die verwaiste Geisterstadt Prypjat mit ihrem stillstehenden Riesenrad und dem monumentalen Schwimmbad ohne Wasser.
Repräsentanten des Chaos
Doch wo Lepage zeichnerisch beeindruckt, ist ›Rückkehr ins Niemandsland‹ grafisch eher zurückhaltend, und wo Lepage sich selbst als Reisender in der Todeszone in den Vordergrund stellt, entscheidet sich Sánchez für einen emphatischen Blick auf die Schicksale der Betroffenen. Allerdings kreiert Sánchez dazu sehr repräsentative Figuren, die meist etwas skizzenhaft bleiben; ihre Charakterisierung geht nur wenig darüber hinaus, dass sie eben repräsentativ für ihre Generation stehen. Er erzählt mit sehr reduzierter Dramatik, was insgesamt bei diesem ohnehin sehr bitteren Thema eher wohltuend ist.
Manche hochemotionalen Aspekte werden aber auch etwas zu exemplarisch abgehandelt, wie etwa der Besuch bei den Veteranen der Liquidatoren, deren dramatisches Schicksal einen als Leser auch seltsam kalt lassen. Auch die Zeichnungen sind nicht ohne Schwächen: Manchmal muss man sehr genau hinschauen, um sich orientieren und dem Fluss der Geschichte folgen zu können. Manchmal vermitteln die Zeichnungen mit vielen groben Schraffuren zu viel Chaos und zu wenig Überblick.
Was beide Comics verbindet, ist das schreckliche, kribbelnde Gefühl beim Lesen: die undefinierbare Angst vor einer unsichtbaren, unaufhaltsamen, unbesiegbaren Kraft, die sich überall einschleicht und durchsickert – und von der die weit jüngere Katastrophe in Fukushima wieder eine unschätzbare Menge in unser weltweites Ökosystem entlassen hat. Das dürfte der wahre Grund dafür sein, warum wir von dieser Katastrophe gerne so wenig wie möglich lesen und hören wollen: Viel mehr als bei so manchem Horrorfilm kann einem hier nämlich wirklich angst und bange werden.
Titelangaben
Francisco Sánchez (Text), Natacha Bustos (Zeichnungen): Tschernobyl – Rückkehr ins Niemandsland
(Chernóbil – La Zona) Aus dem Spanischen von André Höchemer
Köln: Egmont Verlagsgesellschaft 2016
192 Seiten, 19,99 Euro
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|Blog von Natacha Bustos
| ›Ein Frühling in Tschernobyl‹ bei Splitter