Nicht alles hat einen Grund

Roman | Peter Stamm: Weit übers Land

Heute noch ein intaktes Familienleben mit geerbtem Häuschen in der Schweiz und Sommerurlaub in Spanien – doch am nächsten Tag schon der Bruch. Der Ehemann und Vater Thomas verschwindet spurlos und ohne Grund. Peter Stamms neuer Roman Weit übers Land beginnt vermeintlich harmlos und wirft doch die ganz existentiellen Fragen auf, zeigt die Ungewissheiten des Lebens und der Liebe. Von INGEBORG JAISER

StammHand aufs Herz: Wer hat nicht schon einmal mit dem Gedanken gespielt, einfach zu verschwinden? Plötzlich aufzubrechen, die tägliche Routine hinter sich zu lassen und irgendwo abzutauchen? Insgeheim ein Tabuthema – und dennoch als literarische Idee ein überaus reizvolles Motiv. Man denke nur an Mirko Bonnés Nie mehr Nacht, an Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon, an Margriet de Moors (fast schon in Vergessenheit geratenes) Erst grau dann weiß dann blau.

Auch der Schweizer Autor Peter Stamm trug dieses Sujet gut 15 Jahre in Gedanken mit sich herum, einerseits inspiriert durch Nathaniel Hawthornes Erzählung Wakefield, andererseits das Bild eines Mannes, der nachts alleine übers Land geht, vor dem geistigen Auge.

Ein unmoralischer Schritt

Auch Thomas aus Weit übers Land ist ein einsamer Wanderer. Ein gewöhnlicher, gar nicht mal unglücklicher Familienvater, der an einem milden Augustabend, just am Tage seiner Rückkehr aus dem Sommerurlaub, unvermittelt aufsteht und sein Zuhause verlässt, ohne ersichtlichen Grund oder äußeren Anlass, ohne Streit oder Differenzen, ohne finanzielle, familiäre oder gesundheitliche Sorgen. Zurück lässt er seine Frau Astrid und die Kinder Ella und Konrad. Ein geradezu unerhörter, unmoralischer Schritt – und dennoch eine ruhige, nicht infrage gestellte Entscheidung.

Thomas verlässt seinen Heimatort, planlos, ziellos, ohne Gepäck, ohne Wanderkarte, ohne genügend Bargeld – nicht mal eine Jacke hat er sich übergezogen. Er läuft tagelang, wochenlang durch verlassene, oft menschenleere Gegenden, die vage an Modellbaulandschaften erinnern, an »eine Topographie aus Pappmaché, mit künstlichem Grün bestreut und bestückt mit Häuschen und Bäumchen aus dem Katalog«. Und dennoch ist er ganz bei sich, fühlt sich gegenwärtig wie noch nie, es ist ihm »als habe er keine Vergangenheit und keine Zukunft«. Immer weiter entfernt er sich, wandert bergauf, ins feuchte, unwirtliche Gebirg, ein bisschen wie Georg Büchners Lenz. Ist es das, was man Freiheit nennt?

Nackt wie ein Neugeborenes

Indes versucht Ehefrau Astrid, möglichst lange das Verschwinden ihres Mannes geheim zu halten. Seinem Arbeitgeber gaukelt sie eine Erkrankung, den Kindern eine Dienstreise vor. Erst als eine Vermisstenmeldung unumgänglich ist, verspürt Astrid Angst, »dieser Schritt würde aus Thomas´ Verschwinden etwas Endgültiges machen, eine amtlich beglaubigte Tatsache, die für immer Teil ihres Lebens sein würde«.

Doch obwohl Thomas nachvollziehbare Spuren hinterlässt, mit seiner Bankkarte Einkäufe bezahlt, sich in einem Sportgeschäft neu einkleidet, sich in einem Gipfelbuch verewigt, wird er nie gefunden. Spätestens, als in einem Müllcontainer Thomas´ abgelegte Kleidungsstücke auftauchen, muss Astrid realisieren, dass sich ihr Ehemann aus ihrem Leben entfernt hat und »nackt wie ein Neugeborenes« möglicherweise eine neue Existenz begonnen hat. Dennoch fühlt sie sich von ihm beobachtet und weiterhin verbunden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Thomas irgendwann für tot erklärt wird und Astrid von einer Witwenrente leben muss. Zurück bleibt die Trauer über den Verlust eines geschätzten Menschen. Und hier versteht man auch, weshalb Peter Stamm diesen Roman seinem spanischen Verleger Jaume Vallcorba Plana gewidmet hat, der 2014 verstorben ist.

Bruderschaft von Wanderern

Weit übers Land bedient sich einer schnörkellosen, schlichten und sparsamen Sprache, sehr lakonisch, ohne jegliche Erklärungsversuche oder psychologisierende Anklänge. Hier schlägt Peter Stamms erlernter Erstberuf als Buchhalter durch, nüchtern und faktisch. Besonders mit Adjektiven wird sehr verhalten umgegangen. Vielleicht auch das Resultat eines langen Prozesses von Streichungen und Überarbeitungen? Dennoch macht sich beim Lesen eine dichte, geradezu körperlich spürbare Atmosphäre breit, eine Sehnsucht nach dem Rhythmus des Gehens. Ist Bewegung nicht natürlicher als Sesshaftigkeit? »Vielleicht gab es viele wie ihn, dachte Thomas, war er Teil einer über die Welt verstreuten Bruderschaft von Wanderern«.

Mancher Leser mag diesem Roman mangelnde Plausibilität zuschreiben, doch gerade darin liegt sein Zauber. So reduziert und minimalistisch Weit übers Land auch gehalten ist, ein einziger Satz kommt doppelt vor und kann als Motto gelten: »Nicht alles, was man tat, hatte einen Grund.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Peter Stamm: Weit übers Land
Frankfurt/M.: S. Fischer 2016
222 Seiten. 19,99 Euro
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr von Peter Stamm in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nicht lesen, sondern dechiffrieren

Nächster Artikel

Zu Schauen das schöne Geschlecht

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Keinen Deut esoterisch!

Roman | Milena Moser: Montagsmenschen Die Schweizer Schriftstellerin Milena Moser hat eine mittlere Odyssee hinter sich. Seit ihrem achten Roman Möchtegern (2010) scheint sie endlich eine verlegerische Heimat bei Nagel & Kimche in Zürich gefunden zu haben: Nach High Noon im Mittelland (2011), einer Sammlung ihrer Kolumnen, ist dort eben ihr neunter Roman erschienen, Montagsmenschen. Von PIEKE BIERMANN

Ausgeträumt

Roman | John le Carré: Federball

Von George Smiley ist in John le Carrés neuem Roman Federball keine Rede mehr. Sein Ich-Erzähler, auch ein Spion, heißt Nat. Nach seinem letzten Auslandseinsatz zurückgekehrt ins Vereinigte Königreich, wird er auf einen Posten abgeschoben, auf dem kein Schaden mehr anzurichten ist. Genug Zeit, sich dem geliebten Badminton-Spiel zu widmen und sich auf ein Duell mit einem Mann einzulassen, der nur mit ihm, dem Vereinsmeister, den Schläger kreuzen will. Dass Edward Shannon mehr ist, als lediglich eine sportliche Herausforderung, kann Nat am Beginn seiner Bekanntschaft mit dem jungen Idealisten allerdings nicht ahnen. Von DIETMAR JACOBSEN

Kontinent der Musik und Freiheit

Roman | Sylvain Prudhomme: Ein Lied für Dulce In seinem bewegenden Roman ›Ein Lied für Dulce‹ befasst sich der französische Schriftsteller Sylvain Prudhomme mit der legendären Band Super Mama Djombo und einem Stück portugiesischer Kolonialgeschichte. BETTINA GUTIERREZ hat ihn hierzu befragt.

Vielstimmige Collage

Roman | Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren

»Wir werden die sein, die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen. Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern«, lässt die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla einen Chor aus unterschiedlichsten Stimmen zu Beginn ihres collageartigen Romans über den NSU-Prozess sagen. Von PETER MOHR

Du musst nur den richtigen Knopf drücken

Roman | Junot Díaz: Und so verlierst du sie

Junot Díaz hat mit seinem Roman Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao (2012), einem erstaunlich kuriosen Debüt, überrascht. Jetzt legt er einen neuen Roman in 9 Storys ›Und so verlierst du sie‹ vor. Wieder geht es um einen jungen Latino, diesmal heißt der Ich-Erzähler Yunior, der manchmal peinlich naiv und ehrlich, dann wieder voll Selbstironie und kritischer Distanz über sein Leben plaudert. Ein erstes Geständnis verändert dabei nur scheinbar sein Leben. ›Und so verlierst du sie‹ ist absolut kein Entwicklungsroman. Oder doch? – fragt sich HUBERT HOLZMANN