Gesellschaft | Svenja Bromberg, Birthe Mühlhoff, Danilo Scholz (Hg.), Euro Trash
Wer in den Nachrichten hören muss, dass der Internationale Währungsfonds IWF die »baldige Erhöhung des Renteneintrittsalters in Deutschlandt« ja, genau: »fordert«, fragt sich unwillkürlich, in welche Richtung Demokratie arbeitet. Oder nicht? Hat Politik zu viel Balltreterei gesehen und lernt vom Umschaltfußball, sie wechselt die Richtung und produziert neuerdings ganz unverhohlen die Meinung von oben nach unten? Von WOLF SENFF
Spaß beiseite. Es geht um elementare Abläufe in einer Demokratie. Darüber wurden gegen Ende der Sechziger Jahre heftige öffentliche Auseinandersetzungen geführt, und bald fühlte sich jedermann durch den Begriff vom staatsmonopolistischen Kapitalismus zutiefst provoziert, lehnte die gesamte Argumentation kurzerhand ab und hatte nur einen verächtlichen Blick für deren Vertreter übrig. Der Begriff geriet in Vergessenheit, wurde ersäuft, getilgt, gelöscht, bestattet.
Problemzonen
»Euro Trash« ist eine Textsammlung zur politischen Lage Europas (Alexandre Kojève, Luc Boltanski, Alain Badiou, Maurizio Lazzarato, Slavoj Žižek, Antonio Negri, Thomas Piketty u. a.), sie enthält Auszüge aus umfangreichen Studien sowie einzelne Originalbeiträge. Sie thematisiert die Problemzonen und bietet keine Patentrezepte.
Wir lesen eine ebenso unmissverständliche wie überzeugende Darstellung der modernen Gesellschaft als eines staatlichen Kapitalismus, in dem die »unternehmerische Logik auf alle Lebensbereiche ausgedehnt« und die »vollständige Unterordnung der Gesellschaft unter das Kapital Wirklichkeit« (Maurizio Lazzarato) ist.
›Arglistige Täuschung‹
Entsprechende Beispiele dazu fallen uns im Überfluss ein, weit mehr als das erwähnte Verlangen des IWF, das uns über die Nachrichtenagenturen überbracht wird – denken wir nur an die Eiertänze zuständiger Politiker und staatlicher Behörden, wenn es um den Abgasbetrug des VW-Konzerns geht – ein justiziabele ›arglistige Täuschung‹.
(Im Jahr 2010 gab die Weltgesundheitsorganisation WHO bekannt, dass jährlich 223.000 Menschen an verpesteter Luft sterben. Im Jahr 2015 nannte das Max Planck Institut die Zahl 3,3 Millionen und aktuell korrigierten Forscher der University of British Columbia die Anzahl der Todesfälle auf 5,5 Millionen.)
Legitimationsprobleme
Nein, es ist keineswegs erheiternd, sich diesen klugen Texten auszuliefern. Doch sie schärfen das Urteilsvermögen, sie sind nicht erschöpfend lang, sie werden dem Leser als verdauliche Häppchen serviert, die man genießen darf.
Nicht ein einziger der Autoren vertritt die Meinung, dass Europa im Interesse der europäischen Bevölkerung regiert werde. Stattdessen wird mehrfach eine Entwicklung nachgezeichnet, die in der Herrschaft des Finanzkapitals kulminiere, während die Politik sich »mit massiven Legitimationsproblemen« (Cédric Durand) konfrontiert sehe. Wundert sich vor diesem Hintergrund irgendjemand über den Brexit?
Žižek, Balibar, Houellebecq
Die Themen sind breit gefächert: Slavoj Žižek untersucht die schwierige Situation der Ukraine und konstatiert eine Billigung der Maßnahmen Putins seitens der gesamten neofaschistischen Rechten Europas, Etienne Balibar wirft in seinem Beitrag die Frage nach dem europäischen Volk und den sich aus dessen Existenz ergebenden Konsequenzen für europäische Politik auf.
Einige Beiträge behandeln das komplizierte deutsch-französische Verhältnis, darunter Michel Houellebecq, der einen nicht leicht zu ortenden Standpunkt als Nichtwähler und seine Schwierigkeiten mit der ›Gutmenschenpolitik‹ bzw. der französischen ›moralischen Linken‹ formuliert.
Europaskepsis
Luc Boltanskis Beitrag beschreibt das potentielle Wählerreservoir des Front National und analysiert dessen Konzept für ein Europa der Nationen, das für die Rechte in der EU repräsentativ sei.
Ein Gespräch mit dem französischen Philosophen Bernard Stiegler wirft einen aktuellen und präzisen Blick auf die »Zuschauergesellschaft« der Gegenwart, in der »Aufmerksamkeit systematisch vereinnahmt und verkauft« wird, und konstatiert einen »Verfall der industriellen Demokratien«. Man fragt sich, wann endlich die vornehme Dame Politik ihre Augen öffnet und den Ernst der Lage zu verstehen beginnt.
Der Titel »Euro Trash« greift zweifellos die grassierende Europaskepsis auf; die überzeugend ausgewählten Texte sind ein Zeugnis dieser Ratlosigkeit und öffnen dennoch unseren Blick für die Chancen und Notwendigkeiten, das europäische Projekt zielstrebig fortzusetzen.
Titelangaben
Svenja Bromberg, Birthe Mühlhoff, Danilo Scholz (Hg.): Euro Trash
Berlin: Merve 2016
232 Seiten, 20 Euro
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