Gesellschaft | Peter & Sabine Ansari: Unglück auf Rezept
Für den Außenstehenden ist die Lektüre erschütternd. Man wird das Buch mehrfach beiseitelegen und einen Tag abwarten, bevor man es wieder aufschlägt. Zum Glück gibt es ein Kapitel ›Alternative Behandlungsmöglichkeiten‹. Von WOLF SENFF
Dem interessierten Leser geben Peter und Sabine Ansari einen Einblick in Geschichte und Gegenwart des Umgangs mit Depression. Mit ihren Fallbeispielen, mit der Symptomatik auch nach Einnahme der Anti-Depressiva – also den sogenannten Nebenwirkungen – wenden sie sich gezielt an die Betroffenen, die oft gar nicht oder einseitig über die Begleiterscheinungen der Einnahme von Anti-Depressiva informiert seien.
Siebenmal so viel, verdreifacht
Bis Mitte der 1960er Jahre galt die Depression auch ohne Behandlung als eine vorübergehende Erkrankung mit guter Prognose. Im Jahr 2014 hingegen verschrieben die Ärzte 1401 Millionen Tagesdosen Antidepressiva, siebenmal so viel wie noch 1990. Da habe, möchte man meinen, unsere Gesundheitsversorgung aber einmal prompt reagiert, Glückwunsch, Lächeln, Händeschütteln.
Nur leider, dass die Depression selbst sich von diesen Verkaufsziffern nicht beeindruckt zeige, die Zahl der Krankheitsfälle steige kontinuierlich, Frühverrentungen aufgrund von depressiven Störungen hätten sich innerhalb von zehn Jahren verdreifacht.
Wir kümmern uns um Wohl und Wehe
Die begründete Vermutung liegt nahe, dass die Medikamente den Betroffenen nicht helfen, sondern sie erst recht dauerhaft krank machen. Mehr noch, der Gedanke drängt sich auf, die gegenwärtige Situation sei Produkt eines intensiven Marketings der Pharmaindustrie, sozusagen einer Verkaufsstrategie auf Teufel komm heraus.
Das kann nicht sein, oder? Es heißt doch »Gesundheits«versorgung, und wir haben eine Menge Gesundheitspolitiker, die sich um Wohl und Wehe der Bevölkerung kümmern – jedenfalls werden sie dafür bezahlt und haben einen Eid geleistet.
Der Horror der Anti-Depressiva
Was kann man dazu sagen? Die Autoren Peter und Sabine Ansari, beide als Ärzte tätig, haben länger als zehn Jahre theoretisch und praktisch zum Thema Antidepressiva geforscht, in den Archiven und Dateien psychiatrischer Anstalten, in den verfügbaren alten und neuen Studien, sie führten Gespräche mit Betroffenen.
Ihre Fallstudien legen nahe, dass antidepressive Medikamente die Symptome veschlimmert und in diversen Fällen Suizide ausgelöst hätten; es könne gar keine Rede davon sein, dass SSRI-Antidepressiva wie Prozac und Citalopram »gut verträglich« seien und »kaum Nebenwirkungen« hätten, beispielsweise seien sie im Langzeitgebrauch mit sexuellen Störungen, Gewichtszunahme, Schlaflosigkeit und Suizidphantasien verbunden – eine Horrorgeschichte.
Vom »Ausschleichen«
Was den Rezensenten noch mehr erschrecken lässt, ist die Tatsache, dass ein Patient ein Medikament, in diesem Fall das Antidepressivum, nicht einfach absetzen kann, sondern sich »ausschleichen«, also mit aller Vorsicht nach und nach reduzieren und dennoch auf Entzugssymptome gefasst sein muss, und zwar, wie man mit Überraschung liest, Symptome der heftigsten Art. Werden für Medikamente dieser Art nicht Unsummen von Forschungsgeldern investiert? Und dann derart deprimierende Produkte? Kann das denn wahr sein?
Das »SSRI-Absetzsyndrom« sei ein Krankheitsbild, das es vor der Einführung von Antidepressiva nicht gegeben habe, verbunden u. a. mit stromschlagartigen Empfindungen im Körper oder Gehirn, mit Aggressivität und erhöhter Gewaltneigung, dauerhafter Schlaflosigkeit. Die Symptome seien so gravierend, dass die Patienten sie nicht aushalten könnten und stattdessen die Medikamente weiterhin einnähmen. Aufgrund des dauerhaften Gebrauchs gebe es zum Beispiel in den USA aber nicht weniger depressive Menschen, ihre Zahl steige weiterhin rasant.
Valium war damals
Es gibt längst Gerichtsurteile zu den manipulativen Praktiken der Pharmaindustrie, doch weder hohe Strafzahlungen noch Verurteilungen noch Imageschäden hätten bislang zu Veränderungen geführt. So arbeiten Betonköpfe im Management der Pharma-Industrie.
Ein historischer Teil ist ein Lehrstück darüber, wie staatliche Kontrolle durch das Vorgehen der Konzerne kalt lächelnd beiseite gewischt wird. Ein Tranquilizer wie Valium, »Mother’s Little Helper«, dessen suchtauslösende Effekte bekannt waren, habe das Lebensgefühl der Sechziger und Siebziger Jahre prägen können, bevor es zu Anhörungen im US-Senat kam und in Deutschland 1981 ein neues Betäubungsmittelgesetz verabschiedet wurde.
Diagnostische Probleme
Die nächste Welle bildeten bzw. sind – schlecht oder einseitig informierte Mediziner würden das Medikament immer noch verschreiben – Antidepressiva wie Prozac, die mit immensem PR-Aufwand als Glückspillen inszeniert werden. Der Hersteller Eli Lilly gab 2007 bekannt, dass weltweit 54 Millionen Menschen mit Prozac behandelt würden.
Peter und Sabine Ansari verweisen generell auf Schwierigkeiten, eine Depression zu diagnostizieren; ein von der pharmazeutischen Industrie lancierter Testbogen werde den individuellen Krankheitsbildern nicht gerecht, und die individuelle Diagnose lasse einen weiten Ermessensspielraum; sinnvoll sei ein in Finnland praktizierter Ansatz, mindestens ein halbes Jahr lang gänzlich auf eine Diagnostizierung zu verzichten.
Depression sei nicht organisch nachweisbar, sie sei im Regelfall auf Brüche in Biographien zurückzuführen, und deshalb sei generell die Psychotherapie die geeignete Behandlung, um der je individuellen Ausprägung zu begegnen. Hier bremse jedoch die bittere Realität der Gesundheitsversorgung, denn ein Patient müsse sechs bis zwölf Monate auf einen Therapieplatz warten.
Ratschläge und Hinweise
Depression, das werde immer wieder deutlich, sei eine Erkrankung bzw. Eintrübung des Gemüts, deren Ursache unbekannt sei, und niemand könne zusammenhängend erklären, weshalb sie wieder vorübergehe. Ihr sei medikamentös nicht beizukommen; Peter und Sabine Ansari legen den Betroffenen nahe, sich in diversen Formen der Welt zuzuwenden, etwa durch Sport- oder leichte Bewegungsprogramme, die fester Bestandteil des Alltags werden sollten, Fahrradfahren, Spaziergänge.
Pflanzliche Heilmittel seien Erfolg versprechend, wenn es etwa um Schlaflosigkeit oder Steigerung der Libido gehe. Ebenso könne Tagebuchschreiben helfen, den eigenen Ort im Leben bewusst wahrzunehmen, und nicht zuletzt seien meditative Übungen hilfreich, um das gedankliche Durcheinander zu ordnen. Peter und Sabine Ansari wenden sich mit diesen sehr praktischen Hinweisen unmittelbar an die Betroffenen, die leider allzu häufig weder ein noch aus wüssten.
Titelangaben
Peter & Sabine Ansari: Unglück auf Rezept
Die Anti-Depressiva-Lüge und ihre Folgen
Stuttgart: Klett-Cotta 2016
300 Seiten, 16,95 Euro
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