Gesellschaft | Leslie Jamison: Die Klarheit
Man kennt die Geschichten über Sucht, bevor man sie ganz gehört hat, denn sie ähneln sich erschreckend. Leslie Jamison, die selbst jahrelang mit dem Verlangen nach Alkohol kämpfte, wagt sich an die Genesung und Heilung als spannende, lebensbejahende, befreiende Alternative. Von MONA KAMPE
»Bei meinem allerersten Schwips war ich knapp dreizehn. Ich fand’s einfach nur toll: wie der Champagner prickelte. Der ganzen Welt wollte ich zurufen: Warum hat mir denn nie jemand gesagt, dass sich das so gut anfühlt!« Doch wenn Leslie Jamison einen konkreten Punkt nennen soll, an dem sie mit dem Trinken begonnen hat, beschreibt sie es eher als »Einschleifen von Verhaltensmustern – das tägliche Trinken«. Als 21-jährige Literaturstudentin in Iowa City steht ihr die Welt des Rauschmittels offen, Dichterkneipen und Partys.
Mit der Selbstverletzung, dem Ritzen, ist sie bereits seit der Highschool-Zeit vertraut. Sie war ein schüchternes Kind, fühlte sich unzulänglich, ständig in Angst, das Falsche zu sagen. Sie schaudert, wenn sie auf die »theatralische Inszenierung« ihrer existenziellen Ängste zurückblickt. Sie schreibt bereits in jungen Jahren, um diese Versagensängste zu kompensieren. Ihre Figuren waren leidend, krank, passiv, grausam und wurden grausam behandelt.
Auch liest Jamison viel über betrunkene Dichter, sie werden ihre Idole, »ätherisch und authentisch. Das Trinken und das Schreiben waren zwei unterschiedliche Antworten auf ein und denselben feuerflüssigen Schmerz. Ein Schmerz, den man betäuben oder dem man eine Stimme geben konnte.« Die Sucht kam ihr irrsinnig produktiv vor. »Der Rausch ging aus von der faszinierenden Beziehung zwischen Kreativität und Sucht.«
In ihrer realen Welt, die nicht nur von dem favorisierten stundenlangen Trinken oder Schlafen gekennzeichnet ist, führt ihr Verlangen in viele Abgründe: sie hat Sex mit unbekannten Männern, zahlreiche Filmrisse und erlebt die Höhen und Tiefen ihrer Beziehungen: Höhenflüge beim gemeinsamen Wein am Strand, Abstürze und Eifersuchtsszenen bei Partys, Kontrollverluste, Verlustängste. Tief in ihr der ewige Wunsch nach vollkommener Bestätigung.
Als sie es nach zwei gescheiterten Versuchen allein nicht mehr schafft aufzuhören und in ständigen Gedanken bei ihrem nächsten Drink ist, heimlich und beschämt in ihrem Arbeitszimmer trinkt, geht sie zu einer Selbsthilfegruppe, den Anonymen Alkoholikern. Ein wichtiger Schritt für die junge Autorin.
»Was hilft einem Menschen dabei, dass es ihm besser geht?«
In ihrem Buch ›Die Klarheit‹widmet sich die Autorin und Dozentin Leslie Jamison, deren Debüt ›Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer‹ bereits 2015 heiß diskutiert wurde, Geschichten von Genesung und Heilung von Sucht. Dabei nähert sie sich von drei Seiten: erstens literaturwissenschaftlich, indem sie die Leidenswege verschiedener bekannter Autoren und Persönlichkeiten wie Raymond Carver, John Berryman, Jean Rhys, David Foster Wallace, Billie Holiday und Amy Winehouse und die Mythen von deren Genialität analysiert. Zweitens autobiografisch, indem sie Bruchstücke aus ihrem eigenen Leben preisgibt und drittens erzählerisch, indem sie die Geschichten anderer, die sie auf ihrem Genesungsweg begleitet hat, darlegt.
Auf Grund dieser Vergleiche und Kontraste gelingt es Jamison, ein authentisches, ehrliches, ergreifendes Bild der Suchtkrankheit zu zeichnen und aufzuzeigen, dass nicht nur die Sucht an sich spannend ist, sondern vor allem die mühsamen Genesungswege.
Hierbei ist es gerade nicht von Bedeutung, dass jeder Suchthintergrund originell und einzigartig ist, sondern vor allem geht es um die Similarität der Geschichten, das Mitfühlen mit anderen, das jedem Suchtkranken Halt gibt. Wie befreiend und »glücklich machend es ist, wenn man lernt, das Leben so zu führen – in der Gruppe, als Chor und ohne die betäubende Zurückgezogenheit im Rausch«.
Die Anonymen Alkoholiker, kurz AA, sind eine solche wertvolle Gemeinschaft, mit Hilfe der die Autorin lernt, dass sie selbst keine einzigartige Geschichte hat oder eine solche schreiben muss, dass eben diese Redundanz ihr und anderen helfen kann – ganz ohne Schönfärberei.
Ihr Buch erweitert sich damit um eine vierte Komponente: die gesellschaftskritische, indem sie Mängel an Behandlungsmöglichkeiten – auch innerhalb der AA – aufzeigt und Optimierungsvorschläge macht. Sie plädiert zudem für die Entkriminalisierung von Drogen als politische Alternative zur Masseninhaftierung. Ein Paradigmenwechsel weg vom Bild des Übeltäters hin zur Frage: »Was hilft einem Menschen dabei, dass es ihm besser geht?«
Nichts an Leslie Jamisons Geschichte ist außergewöhnlich, »Genesung hat mit dem Eintauchen ins Leben anderer zu tun«. Gerade für sie, die immer besonders sein wollte, eine wichtige Erkenntnis, die ihr nur die Klarheit schenken konnte.
Titelangaben
Leslie Jamison: Die Klarheit
Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung
Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann
München: Carl Hanser Verlag 2018
638 Seiten, 28 Euro
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