Roman | Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs
Géza Jasnodworski kocht. Doch nur für die, die es sich leisten können. Denn Géza brutzelt und brät über bibliophilen Erstausgaben. Schnitzel über Schnitzler. Steak auf Joyce. Und Stör auf Dostojewski. Denn niemand liest mehr in der gar nicht so fernen Zukunft, in die Vladimir Sorokin den Leser in seinem neuen Roman entführt. Stattdessen plündert man die Bibliotheken und Museen für ultimative Geschmacksevents. Allein die Konkurrenz der neuen Starköche schläft nicht. Und kommt mit einem Produkt auf den Markt, das Géza und den Seinen das Wasser abzugraben droht. Von DIETMAR JACOBSEN
Vladimir Sorokins neuer Roman Manaraga spielt unter Starköchen im Jahr 2037. Starköchen, die auch literarische Feinschmecker sind und nur das Erlesenste aufschlagen: bibliophile Erstausgaben, antiquarische Raritäten sowie Verbotenes aus gut bestückten Privatbibliotheken, beschafft von so fingerfertigen wie teuer bezahlten und weltweit aktiven Bücherdieben.
Doch die Top-Köche der nahen Zukunft haben es auf eine andere Eigenschaft der Bücher abgesehen als auf jene überkommene,die sie in dem inzwischen zu Ende gegangenen Gutenberg-Zeitalter besaßen.
In Wahrheit nämlich liest kein Mensch mehr auf die alte Art und Weise in jener Zeit, in die Sorokin mit seinem Roman einlädt. Allein zum Braten und Brutzeln dienen Meisterköchen wie Géza Jasnodworski, Sorokins Helden, die teuren Folianten. Und je seltener das Buch, über dessen langsam abbrennenden Seiten Stör, Steak und Schweinelende gar werden, umso größer das Vergnügen der sich die Book’n’Grill-Events leistenden Großkopferten.
Unter Book’n’Grillern
Géza hat die steile Karriere vom Durchschnittskoch aus den Schnellküchen des Hongkonger Untergrunds zum Drei-Sterne-Mietkoch mit Klientel rund um den Globus dank seiner Liebe zur russischen Literatur geschafft. Und die Wärme, die Autoren wie Tolstoi und Dostojewski, Tschechow und Turgenjew, Anna Achmatowa und Andrej Platonow den Herzen der lesenden Menschen einst schenkten, spenden ihre Werke inzwischen den auf dem Grill liegenden kulinarischen Köstlichkeiten.
Aber Vorsicht: Kein zweitklassiger Autor – zu denen Géza zum Beispiel Maxim Gorki zählt – taugt für ein gut durchgebratenes Steak. Und jene Stümper, die den Umgang mit dem in Kochkreisen »Excalibur« genannten, schwertähnlichen Werkzeug zum sanften Nach-und-nach-ins-Feuer-Blättern der einzelnen Buchseiten nicht beherrschen, dürfen sich ebenfalls nicht zur Elite der Book’n’Griller zählen.
Wer die letzten Werke von Vladimir Sorokin gelesen hat, dem wird Géza Jasnodworskis Welt bekannt vorkommen. Auch Manaraga spielt in einer Zukunft, in der islamische Revolutionen und große Kriege den Globus erschüttert haben und für politisch-geographische Neuordnungen sorgten. Ganze Landstriche wurden refeudalisiert, vom alten Russland und dem Europa, wie wir es kennen, ist Ende der 30er Jahre des Jahrhunderts nicht mehr viel übriggeblieben.
Im krassen Gegensatz zu den mittelalterlichen Zuständen, wie man sie schon aus früheren Sorokin-Büchern – Der Tag des Opritschniks (2006) oder der Zuckerkreml (2013) etwa – kennt, steht freilich die avancierte Technik, deren sich seine Figuren bedienen. So hat Géza nicht nur einen »Floh« genannten Mikroprozessor im Ohr, eine Art Wikipedia- Flüsterer, der ihm das gesamte Weltwissen einzutrichtern vermag, sondern zwei weitere »Flöhe« regeln sein physisch-psychisches Wohlbefinden und seine Sicherheit.
Leben mit einem Floh im Ohr
Also alles in Ordnung in der Welt der Starköche? Mitnichten. Denn weltweit gilt ihr rabiater Umgang mit den ausgewählten Brennstoffen als Terrorismus, stehen schwere Strafen auf die Beschaffung des zu verfeuernden Materials. Noch bedrohlicher für die Weiterexistenz der exklusiven Kochveranstaltungen für diejenigen, die sich den Spaß leisten können, ist freilich die Tatsache, dass auf dem Berg Manaraga im nördlichen Kaukasus gerade mit Hilfe eines Verräters aus den eigenen Reihen eine Geschäftsidee Realität zu werden beginnt, die den Events der Reichen und den ungeheuren Verdienstmöglichkeiten der mit teuren Erstausgaben arbeitenden Köche das Wasser abzugraben droht.
Warum mühselig Originalausgaben aus Bibliotheken und Antiquariaten stehlen, haben sich Abtrünnige gedacht, wenn man doch wesentlich billiger auf täuschend ähnlichen, mit Hilfe eines neuartigen industriellen Verfahrens hergestellten Buch-Fakes grillen kann. Und so werden in einer schwer zugänglichen Kaukasushöhle Tausende von Duplikaten der Erstausgabe von Vladimir Nabokovs Roman Ada hergestellt, vom Original nicht mehr zu unterscheiden: »Die Bücher sind deckungsgleich bis ins letzte Detail. Ein Riss im Schutzumschlag, abgeriebene Stellen, Teeflecken, Kratzer, Seitenknicke, zwei Löcher, eine Bleistiftanzeichnung auf Seite 142 – überall gleich.« Nur sind die Fälschungen bei identischem Brennwert eben wesentlich billiger zu haben.
Masse statt Klasse
Was tun? Die »Große Küche«, eine Organisation, in der Géza und seinesgleichen sich zusammengefunden haben und die für die Reinhaltung der ursprünglichen Idee des Brutzelns auf Meisterwerken verantwortlich zeichnet, beschließt, eine Strafexpedition in den Kaukasus zu entsenden. Und Géza als Experte für die russische Literatur soll den schwer bewaffneten Söldnertrupp begleiten und die Vernichtung aller Ada-Exemplare und der Maschinerie, auf der sie hergestellt wurden, überwachen.
Doch als Sorokins Held auf dem an seinen sieben in den Himmel ragenden Zacken unschwer zu erkennenden Bergmassiv eintrifft, sieht er sich plötzlich einem alten Bekannten gegenüber, der mit seinem neuartigen Geschäftsmodell Book’n’Grill – Veranstaltungen demokratisieren will. Endlich sollen auch die in den Genuss von über brennenden Buchseiten gegarten Speisen kommen dürfen, die sich das bisher nicht leisten konnten, und ganz nebenbei die abtrünnigen Köche schnell reich machen. Masse statt Klasse fürs Volk!
Vladimir Sorokin ist der Star unter den russischen Gegenwartsautoren. Seit 1985 in Paris sein Debütroman Die Schlange erschien, eine bitterböse Satire auf die Mangelwirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion, hat der Autor mit seinen Büchern immer wieder provoziert. Das ging so weit, dass Angehörige einer kremltreuen Jugendorganisation Sorokins Werke als pornografisch denunzierten und öffentlich verbrannten. Mit Manaraga bleibt der 63-jährige Schriftsteller und Maler sich weiterhin treu.
Im Gewand eines mit vielen grotesken Einfällen versehenen satirischen Romans kritisiert er aktuelle Entwicklungen nicht nur in seiner Heimat. Doch während für Géza Jasnodworski unumstößlich feststeht, dass »das Buch […] eine Welt für sich [ist] – die, zugegeben, der Vergangenheit angehört« und er der Gutenberg-Galaxie keine Träne mehr nachweint, verbietet es sich andererseits nicht, Sorokins Roman auch als eine Art wehmütigen Abgesangs auf die Welt des Lesens und der Literatur zu verstehen.
Titelangaben
Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018
256 Seiten. 16,99 Euro
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