Kulturbuch | Mina Holland: Der kulinarische Atlas
»Mit jedem Essen reisen wir«, findet Mina Holland – und bietet sich sogleich als Tour Guide durch die Regionen dieser Welt an. So liest sich ›Der kulinarische Atlas‹ als Reiseführer und kulturgeschichtliche Abhandlung, als Nachschlagewerk und Bibliographie, als imaginäre Landkarte und deliziöse Inspirationsquelle. Von INGEBORG JAISER
Kann das gut gehen: ein Kochbuch ganz ohne schillernde Food Photography, ohne die Autorenschaft eines populären Fernsehkochs und ohne trendig-veganen Ansatz? Dafür ein brikettschwerer Anderthalbpfünder mit seitenlangen Texten und sparsamen Grafiken. Zu gewichtig, um eben mal durchzublättern; zu massiv, um im Bett darin zu schmökern; zu zurückhaltend, um als Coffee Table Book zu protzen.
Gerüche, Gewürze, Geschmack
Wer mit dem ›Kulinarischen Atlas‹ unterwegs ist, benötigt ein gehöriges Maß an Durchhaltekraft und Reiselust, gewürzt mit einer Prise Wissensdurst und etlichen Spritzern Neugier. Dieses Kompendium entführt den Leser in 95 Rezepten einmal virtuell rund um den Globus und wieder retour. Was bleibt uns schon im realen Leben in Erinnerung von einem besuchten Land? Weniger die gesehenen Galerien, Museen und Kirchen, als der Anblick von Speisen, der Duft von Gewürzen, der Geruch einer Mahlzeit. Denn: »Die vielen verschiedenen Aromen, Zutaten und Zubereitungsarten, denen wir auf unseren Reisen begegnen, enthüllen uns Zauber und Geschmack der jeweiligen Kultur.«
Aromatische Artischocken
Mina Hollands Tour quer durch die Kontinente und das kulinarische Erbgut von 39 Ländern ist inspirierend und äußerst anregend, fundiert recherchiert und durchaus qualifiziert aufbereitet. Jedes Kapitel – von Kalifornien bis Korea, von Kalabrien bis Katalonien – stellt ein literarisches Zitat oder traditionelles Sprichwort voran, beschreibt dann die regionalen Besonderheiten und Spezialitäten, um schließlich eine Auswahl authentischer Rezepte vorzustellen. Das kann eine Kichererbsensuppe aus dem Latium sein, die ihr einzigartiges Aroma aus pürierter Parmesanrinde bezieht. Oder ein Südstaaten-Schmorgericht mit Cajun-Gewürzmischung und ebensolcher Musikempfehlung. Gerne auch ein verblüffend einfaches Rezept für frittierte italienische Artischocken oder eine raffinierte Anleitung aus dem chinesischen Sichuan für doppelt gegarten Schweinebauch.
Umfangreiches Kompendium
Kulinarische Berührungsängste sollte man als Leser, Konsument und inspirierter Koch möglichst nicht haben, auch keine Lebensmittelallergie oder Laktoseintoleranz. Auch wenn die Autorin nebenbei erwähnt, selbst zwölf Jahre lang vegetarisch gelebt zu haben, scheut sie inzwischen vor (fast) nichts mehr zurück. Charakteristische Standardrezepte werden hier als traditionelles Kulturgut angesehen, liebevoll erläutert und mit persönlichen Anekdoten ausgeschmückt. Wer hinter dem opulenten 400-Seiten-Wälzer allerdings einen abgeklärten Altvorderen der internationalen Kochkultur vermutet, liegt falsch. Mina Holland gehört eher jener Spezies der modernen »Foodies« an, die gerne über Essen und Trinken reden und räsonieren, schreiben und bloggen – jedoch nicht ihren Lebensunterhalt in der Gastronomie bestreiten. Dafür hat der jungen Britin ein Auslandsjahr in Spanien und ein kurzer Ausflug in die Werbebranche offenbar gut getan: ›Der Kulinarische Atlas‹ ist zwar Mina Hollands Erstlingswerk, jedoch umfassend recherchiert, flott geschrieben und mit einer persönlichen Note versehen. Nur ein fantasieloser Langweiler wird bei der Lektüre noch die üblichen Lifestyle-Fotos vermissen.
Titelangaben
Mina Holland: Der kulinarische Atlas. Eine Reise um die Welt in 95 Rezepten
(The Edible Atlas, 2014)
Aus dem Englischen von Katja Hald, Friedrich Pflüger, Karin Schuler und Heike Schlatterer
Hamburg: Atlantik 2014
416 Seiten. 35 Euro
Reinschauen
Homepage von Mina Holland
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