Gesellschaft | Antje Schrupp: Vote For Victoria!
Preisfrage: Von wem stammt diese Aussage? »Während andere meines Geschlechts zu zeigen versuchen, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, warum Frauen in sozialer und politischer Hinsicht als dem Mann untergeordnet behandelt werden sollten, habe ich unerschrocken die Arena der Politik und der Wirtschaft betreten und die Rechte ausgeübt, die ich bereits besaß. Deshalb kündige ich hiermit meine Kandidatur für die Präsidentschaft an.« Die für viele überraschende Antwort (nicht nur darauf) hatte Antje Schrupp schon 2002 in ihrer Dissertation gegeben, jetzt erscheint sie neu, pünktlich zum aktuellen Wahlkampf, als mitreißender Galopp durch ein Stück US-amerikanischer Geschichte: ›Vote For Victoria!‹ Von PIEKE BIERMANN
Okay, also von Hillary Rodham Clinton stammt die Aussage nicht. Die tritt zwar in diesem Jahr zum zweiten Mal an, Präsident der USA zu werden, und diesmal darf sie auch. Bei ihrem ersten Versuch 2008 hatte ihre Partei, die Demokraten, dann doch lieber den schwarzen Mann als die weiße Frau nominiert. Geschichtsbewusste Mitmenschen fühlten sich prompt an die »Negro’s Hour« von 1866 erinnert.
Damals war zum ersten Mal das Wort male in einen Verfassungszusatz eingeführt, im Klartext: die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Verfassungsrang erhoben worden. Solange sprach die amerikanische Verfassung – in heutigen Worten: politically correct – von person, auch die Wahlgesetze bestimmten bis 1868 geschlechtsneutral, wer wählen und sich wählen lassen durfte. Jenes 14th Amendment verstieß also nicht nur eindeutig gegen den Geist der Verfassung, es führte zur Spaltung der bis dato vereinten Freiheitsbewegungen schwarzer und weißer Männer und Frauen – zugunsten der herrschenden weißen Männer, die sich soviel Macht wie möglich sichern wollten. Teile und herrsche weiter fast wie gehabt: Jetzt bekamen zwar endlich die schwarzen Männer das Wahlrecht, aber gleichzeitig blieb es allen Frauen, schwarzen wie weißen, die jahrzehntelang mit ihnen dafür gekämpft hatten, verwehrt bis 1920.
Woman’s Hour? Leider nein
Soviel, sehr knapp, zum historischen Hallraum der »Woman’s Hour«, die dies Jahr womöglich endlich schlägt. Zumindest, wenn man dem Sirenengesang von Mrs. Clintons Begleitchor glaubt. Etliche andere WählerInnen anderen sehen in ihr dagegen allenfalls das kleinere Übel (verglichen mit ihrem republikanischen Konkurrenten). Eine Frau, die weniger für die Gleichrangigkeit »ihres Geschlechts« steht als für die Interessen der weiterhin überwältigend weiß-männlichen Wall Street samt militärisch-industriellem Komplex. Und tatsächlich hätte die eigentliche »Woman’s Hour« bei der Präsidentenwahl im November 1872 schlagen sollen – und können. Hätte nicht eine intrigante bigotte Phalanx dafür gesorgt, dass die Kandidatin im passenden Moment im Knast saß. Übrigens mithilfe desselben Postgesetzes, das noch 50 Jahre später zum Beispiel James Joyces ›Ulysses‹ den Zutritt zum amerikanischen Markt versperren würde.
Yes, I can!
Im April 1870, fast 150 Jahre vor Mrs. Clinton, hatte eine gewisse Victoria Woodhull als tatsächlich erste Frau ihre Kandidatur für die Präsidentschaft verkündet – per Zeitungsannonce, im eigenen Namen: »Während andere meines Geschlechts einen Kreuzzug gegen Gesetze führen, die die Frauen des Landes einschränken, habe ich meine persönliche Unabhängigkeit behauptet. Während andere für bessere Zeiten beteten, tat ich etwas dafür. Während andere für die Gleichheit von Frauen mit den Männern argumentierten, habe ich sie unter Beweis gestellt, indem ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde«, hieß es dort weiter. Sie hatte keine der beiden Parteien um Nominierung ersucht. Sie machte sich vielmehr auch gleich an die Gründung einer neuen. Sowohl Demokraten als auch Republikaner, fand sie, hätten keine sauberen Hände, was den Kampf gegen Sklaverei und für Frauenrechte anging, und seien ungeeignet für die Lösung der wirklichen Probleme.
What if?
Die nämlich gingen weit über das Wahlrecht hinaus. Ihr eigenes Projekt »Vote for Victoria!« stand für radikale und umfassende Sozialreformen – Achtstundentag, gleiche Löhne für Frauen und Männer, Wohlfahrts-, Bildungs- und Gesundheitssysteme –, trat an gegen Rassismus und sexuelle Gewalt, wollte die Todesstrafe abschaffen und eine internationale Gerichtsbarkeit und internationales Militär einführen und warb für freie Liebe ohne Ehegesetze, für Verhütung und Aufklärung und gegen Kriminalisierung von Prostitution und Abtreibung. Woodhull hatte in aller Unbescheidenheit die allgemeine Verbesserung der Gesellschaft im Blick – mit einem heute noch (oder wieder) hochmodernen Programm. Man könnte das gute alte »What if?«-Spiel spielen: Was wäre wohl geworden, wenn sich ihre Vision aus Sozialstaat, liberaler Sexualpolitik und internationaler Konflikt-Kooperation hätte realisieren lassen? Wäre die Welt im Zwanzigsten Jahrhundert vielleicht nicht derart in Gewalt versunken?
Aus der Gosse zu den Sternen
Intersektionalität nennt die moderne Diskriminierungsforschung, wenn einzelne Interessensfelder politisch gebündelt werden, wenn single issues zu einer übergreifenden Dynamik zusammenwachsen, wenn – in den Begriffen der angelsächsischen PionierInnen gesprochen – aus den Unfreiheiten im Namen von sex, race and class ein gemeinsamer Freiheitskampf wird. Antje Schrupp zeichnet Victoria Woodhull deshalb zurecht als »intersektionale Feministin avant la lettre«. Und deren Biographie hat es in sich. Weiter weg vom Aufstieg in die Sphären von Macht und Einfluss kann man kaum sein. Victoria Claflin, später unter anderem mit einem Herrn Woodhull verehelicht, war ein veritables Gossen-Gör, geboren 1838 als siebtes von zehn Kindern einer raufenden, saufenden kleinkriminellen Familie, die heute unter »bildungsfernes Prekariat« laufen würde. Die Mutter braute opiat- und alkoholreiche »Heiltränke«, der Vater vermarktete alles, was Geld brachte – angebliche Wahrsagereien von Frau und Töchtern, erpressungsfähige Geheimnisse anderer Leute … Die Claflins marodierten kreuz und quer durch die Staaten, auf der Flucht vor der Justiz. Und so bekam Victoria nie eine »ordentliche« Ausbildung – weder schulisch noch haushaltsmäßig. Eine »respektable Dame« wird man so nicht, auch die angeblichen Tugenden des »anständigen Frauseins« sind nicht das primäre Lebensziel. Man bekommt allerdings ein nachhaltiges Training im Überleben nach allen eigenen Kräften.
Selfmade-Frau
Aus Victoria wurde eine souveräne, unabhängige – tja: Person, und zwar durchaus selbstbewusst weiblichen Geschlechts. Charismatisch bis zu theatralischster Spökenkiekerei (Spiritismus war auch damals in den USA en vogue), sexuell frei, hochintelligent und taktisch gewieft. Die erste Brokerin der Wall Street, die erste Bankbesitzerin, die erste, die eine eigene Wochenzeitung gründete, um sich selbst medial zu begleiten, eine Selfmade-Frau, die ihren Erfolg der treuen Kooperation mit ein paar anderen Frauen und nicht zuletzt (und nie verhohlen) auch Sexworkerinnen verdankte, deren Kollegin sie ebenfalls mal gewesen war. Eine, die sich mit den mächtigsten Moralaposteln (auch der Frauenbewegung) anlegte, weil sie Heuchelei verachtete. Und weil sie genug Geld dafür hatte.
Damals, vor fast 150 Jahren, war sie übrigens auch in deutschen Landen noch berühmt oder vielmehr berüchtigt. Unter dem vielsagenden Titel: ›Amerika’s größter Humbug‹ reportierte etwa die ›Gartenlaube‹ ausführlich, was Victoria Woodhull, die erste mögliche presidentess, gerade wieder anstellte. Heute gehört sie nicht einmal in den Vereinigten Staaten zum Schulbuch-Grundschatz. Um so wichtiger, diese Frau mitsamt der politischen Zeitgeschichte um sie herum wiederzuentdecken. Antje Schrupp macht daraus ein großes Vergnügen, ihr Porträt ist ein page-turner, spannend geschrieben, faszinierend, informativ. »Wir können noch viel von ihr lernen«, schreibt sie im Nachwort. Wie wahr. Mit Sicherheit mehr als von Mrs. Clinton.
Titelangaben
Antje Schrupp: Vote For Victoria!
Das wilde Leben von Amerikas erster Präsidentschaftskandidatin
Victoria Woodhull (1838-1927)
Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2016
140 Seiten, 12,95 Euro
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Reinschauen
| Eine frühere Fassung erschien am 25. Juli im Deutschlandradio Kultur