Ein, zwei Tassen noch

Gesellschaft | Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser

Als säße man in einer Falle. Es gibt ein Denken, das sich dagegen sperrt, die Grenzen der westlich industriellen Kultur zu überschreiten, aus welchen Gründen auch immer. Also als sei es undenkbar, dass eine Technologie einbricht wie ein Kartenhaus, pardauz, weniger weil die Zahl von Facharbeitern nicht ausreicht, sondern weil eine schnöde Naturkatastrophe: ein Feuer, ein Beben, ein Erdrutsch, ein Hurrikan eine Produktionsstätte zerstört oder einfach nur die Energieversorgung unterbricht. Von WOLF SENFF

Angele - Der letzte ZeitungsleserOder anders: »Geht die Raumfahrt am eigenen Dreck zugrunde?« (Feature DLF Kultur, 28.07.). Unsere jeweils neueste Technologie zersetzt die natürlichen Grundlagen des Lebens desto wirksamer, die Risiken wachsen. Und die sich selbst als ›soziale Medien‹ preisen, arbeiten konzeptionell daran, die Vielfalt und den Facettenreichtum menschlicher Begegnungen zu reduzieren.

Überlebenschancen

Diesen Prozess allgemeiner Prekarisierung beobachten wir im gesamten Spektrum der westlich industriellen Zivilisation, die Herrschaften sind am Ende mit ihrem Latein. »Die US-Fluggesellschaft Delta hat nach einem Systemausfall den Start ihrer Flugzeuge vorübergehend eingestellt« (Nachrichten DLF, 8. August).

Dass diese bedenkliche Gesamtlage argumentativ nicht berücksichtigt ist, liegt in Michael Angeles Angst begründet, in einen »billigen Kulturpessimismus« abzudriften. Grundlage seiner Betrachtungen ist die konkret drohende Gefahr, dass schließlich auch der letzte Zeitungsleser vor der erdrückenden Flut der Netzkommunikation kapitulieren werde. Allein den Wochenzeitungen billigt er realistische Überlebenschancen zu; er ist stellvertretender Chefredakteur des ›Freitag‹.

Im online-Stress

Michael Angele legt einen äußerst charmanten, informativen Essay vor. Es handelt sich, wie der Verlag treffend kommentiert, um eine Liebeserklärung, mit Herzblut verfasst, die dem Leser eine verführerische Einführung in den Genuss des Zeitunglesens liefert.

Angele schätzt die Distanz, die ein Zeitungsleser einnimmt, der sich beim sonntäglichen Frühstück oder in einem Café aus dem umtriebigen Alltag zurückzieht, um von dort einen Blick auf das Weltgeschehen zu werfen. Der online-Leser hingegen steckt mittendrin, er weicht auf diverse Links aus, er ruft eine immer wieder andere Ausgabe auf seinen Schirm, er hetzt von hier nach dort, er schlägt nach, er kommt nicht zur Ruhe, der Arme, voll im Stress.

Zeitungssammler

Verglichen mit dem Zeitunglesen darf man diesen Lauf der Dinge zurecht als würdelos empfinden, der online-Leser ist medial komplett vereinnahmt, er ist wohl schon nicht mehr er selbst. Demgegenüber attestiert Angele dem Zeitungsleser eine kosmopolitische Haltung, eine eher aristokratische Attitude, für die ihm der leidenschaftliche Zeitungsleser Thomas Bernhard beispielhaft ist, und wenn denn auch das Zeitunglesen eine Sucht genannt werden darf, so ist sie von gänzlich anderer Qualität als das Lesen im Netz.

Wir erfahren, dass es neben den Zeitungsausschnittsammlern auch Zeitungssammler gibt – besondere Formen von Eskapismus, liebenswert, störrisch und vielleicht sogar entfernt verwandt mit Nerds.

Vorzugsweise sonntags

›Der letzte Zeitungsleser‹ ist ein subjektiv empfundener Essay, der uns über Thomas Bernhard, Joe Strummer, Franz Xaver Kroetz, Peter Handke, Claus Peymann sehr sympathisch, wenngleich nicht frei von Eitelkeit in die Welt Michael Angeles einlädt. Schön auch dessen Gedanke, dass eine Zeitung sich ein eigenes Milieu schaffe; er könne sich zum Beispiel vorstellen, einen ›Tagesspiegel‹-Leser zu erkennen, auch wenn der seine Zeitung gerade nicht in der Hand halte.

Es ist ein Buch, das der unersättliche Zeitungsleser vorzugsweise an einem Sonntag zur Hand nimmt, nachdem er seine Sonntagszeitung beiseite gelegt hat – das Kännchen hält noch ein, zwei Tassen bereit, und Reststücke von der gestrigen Torte laden zum Verzehr ein.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser
Berlin: Galiani 2016
160 Seiten, 16 Euro
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