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Vorbeigeschrieben

Gesellschaft | Slavoj Žižek: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne

Das Massaker in der Redaktion der Pariser Zeitschrift ›Charlie Hébdo‹ im Januar des Jahres hat die unterschiedlichsten Reaktionen ausgelöst, angemessene und weniger angemessene: Solidarität bei den meisten, Schrecken, Mitgefühl, Bestürzung und Trauer, aber auch Versuche zur politischen Vereinnahmung. Zu den seltsamsten Reaktionen gehört das Büchlein ›Blasphemische Gedanken‹ des international renommierten Philosophen und Psychoanalytikers Slavoj Žižek. Von PETER BLASTENBREI

Islam-ModerneŽižek hat sich, sehr verständlich, an den Auswüchsen der Solidarisierung mit den Opfern der Anschläge gestoßen, an Lavrov und Cameron, Netanjahu und Abbás Arm in Arm, aber auch am Schulterschluss vieler Franzosen mit den Ordnungskräften – neben »Je suis Charlie«-Ansteckern gab es auch solche mit »Je suis flic«. Doch wer jetzt eine intensive Durchleuchtung der psychischen Befindlichkeiten heutiger westlicher Gesellschaften erwartet hätte, geht fehl.

Paradoxien und Argumente

Das Buch umfasst zwei unabhängige Essays. Der Unterschied zwischen westlich-liberaler und muslimischer Kultur scheint im weitesten Sinn der Inhalt des ersten Essays zu sein. Scheint, denn es ist schwer, sich einen vageren, assoziativeren und unkonzentrierteren Text vorzustellen. Gedanken werden halb ausformuliert und mäandern ohne erkennbares Ziel über die Seiten, Denkstränge werden angerissen und versanden, Fragen bleiben ohne Antwort, Antworten ohne Fragen. Auch Žižeks Vorliebe für vorgeblich geistreiche Paradoxien anstelle von stringenten Argumentationslinien hilft nicht gerade zum Verständnis.

Ist der IS ein modernes Phänomen, weil er heutige Kommunikationstechniken nutzt und weil Kalif Ibrahim eine Schweizer Armbanduhr neuesten Modells trägt ? Oder vormodern, »mittelalterlich«, weil sich sein staatliches Handeln allein auf die Religion konzentriert (was so nicht stimmt)? Hat die Frage überhaupt einen Sinn?

Manchmal geht es bis zu handfesten Absurditäten. Etwa so: Sajjid Qutb (1906-1966), ein wichtiger Ideologe der Muslimbrüder, kontrastiert die allein auf die Religion gegründete ideale muslimische Gesellschaft mit Gesellschaften, die auf Rasse, Nation oder Hautfarbe aufbauen. Žižek moniert das Fehlen von Geschlecht als Kriterium und stellt daran ein weiteres Mal die Unterlegenheit des Islam gegenüber westlichen Gesellschaftsentwürfen fest (S.21-22). Ähnlich humoristisch wirkt die Unterscheidung zwischen authentischen, weil friedlichen Fundamentalisten (tibetische Buddhisten, Amish) und unechten, weil terroristischen islamischen Fundamentalisten. Ah ja.

Wo ist Hagar?

Im zweiten Essay will der Autor mit Hilfe der dogmatischen Vorgaben der Psychoanalyse zum Kern des islamischen Bewusstseins vorstoßen. Auf Sigmund Freud selbst geht die Psychoanalyse ganzer Religionsgemeinschaften zurück. Von ihm stammt auch der Begriff des »Archivs« einer Kultur, Ergebnis einer kollektiven Verdrängung, die im verborgenen weiter wirkt. Analog zu Freuds (rein spekulativem) Mord am jüdischen Religionsstifter Moses (›Der Mann Moses‹, 1939) sucht Žižek im Islam nach dem verdrängten Urerlebnis, das diese Religion und ihre Gläubigen aus dem Unbewusstsein heraus dauerhaft konditionieren soll.

Und stößt – im Anschluss an den französisch-tunesischen Psychoanalytiker Fethi Benslama – auf die verdrängte Hagar. Hagar, arabisch Hadschar, war Nebenfrau des Patriarchen Abraham, mit der er den Ishmael zeugte. Von Abrahams Hauptfrau Sarah verfolgt floh sie in die Wüste und gebar dort ihr Kind. Žižek stellt nun fest, dass Hagar im Koran nicht erwähnt wird (wie übrigens auch Sarah). Ist sie also die große Verdrängte am Uranfang des Islam? Nur, mit der Verdrängung ist es nicht weit her: Hadschar mag im Koran ungenannt bleiben, mit den Hauptstationen der Pilgerfahrt nach Mekka ist sie engstens namentlich verbunden (Brunnen Zemzem, ritueller Lauf um die Ka‛ba) und daher allen Muslim/innen gut bekannt.

Aber es geht hier schon gar nicht mehr um die seriöse Diskussion einer als problematisch empfundenen fremden Religion. Die verborgene Hagar/ Hadschar soll ebenso wie Muhammeds erste Ehefrau Chadidscha, die zum Beweis der Echtheit des Engels Gottes ihr Gesicht enthüllte, eines suggerieren, die Reduktion des Islam auf Frauenunterdrückung durch Verhüllung. In Žižeks Worten kann »nur eine Frau die Wahrheit garantieren«, und aus diesem Grund muss sie verschleiert, verborgen, verdrängt bleiben (S. 61). Mit entsprechenden Folgen für alle Muslime.

Verhüllte Wahrheiten

Kritiker haben dem Autor immer wieder vorgeworfen, dass er sich zu jedem aktuellen Thema zu Wort meldet, oft mit wenig durchdachten Schnellschüssen. Das ist noch das Freundlichste, was man zu diesem Buch sagen kann.
Denn es gibt da noch einen beunruhigenden Aspekt. Žižek distanziert sich von einer »blinden Islamophobie« als Reaktion auf die Pariser Terrorakte (S.12), merkt aber offenbar selber nicht, wie getreu er einschlägige Denkstrukturen westlicher Islamfeinde, sogenannter »Islamkritiker«, reproduziert.

So geht er an den Islam heran wie ein Altphilologe an Texte längst untergegangener Kulturen. Eine sehr schmale Basis von Koran-Zitaten ersetzt die Auseinandersetzung mit einer an sich doch ganz lebendigen Religion. In seinem Islam gibt es folglich keine geografischen oder zeitlichen Veränderungen und Varianten, keine Auslegungen oder Diskussionen, keine Diaspora mit besonderen Bedingungen (aus der die Pariser Attentäter ja kamen). Žižeks Islam ist der Islam seiner Feinde, der notorische monolithische Block, unverändert und unveränderlich seit dem ersten Tag.

Entsprechend unsauber geht Žižek mit Begrifflichkeiten um: IS, muslimischer Fundamentalismus und »der Islam«, gehen wild durcheinander und werden meist synonym gebraucht (wie übrigens auch die Gegenbilder westliche Freiheiten, Gleichheit und Toleranz, universalistische Werte, westlicher Hedonismus). Nicht einmal der obligatorische Rundumschlag gegen die »saftlosen Liberalen« des Westens mit ihrer »pathologischen Angst vor Islamophobie« fehlt, ein Rundumschlag, der in dem denkwürdigen Satz gipfelt »Je mehr man den Islam toleriert, desto stärker scheint der Druck zu werden, den er auf einen ausübt.« (S.11) – natürlich streng nach dem psychoanalytischen Modell vom Über-Ich.

Ist das Buch also nur ein kurioser Schnörkel in einer Diskussion, die ohnehin nie ernsthaft geführt wurde?
Einerseits ja, aber mehr als das, letztlich eine unbeabsichtigte Bankrotterklärung von Diskursformen des europäischen Denkens.

| PETER BLASTENBREI

Titelangaben
Slavoj Žižek: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne
(Islam and Modernity. Some Blasphemic Reflexions – Deutsch von Michael Adrian)
Berlin: Ullstein 2015
64 Seiten, 4,99 Euro

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