Böses Schweigen

Jugendbuch | Emiel de Wild: Brudergeheimnis

»Schweigen ist Gold«, heißt es, aber so einfach ist die Sache nicht. Es kommt darauf an, worüber geschwiegen wird und das kann zuweilen etwas Schreckliches sein. Über Schreckliches zu schweigen bleibt jedoch nicht folgenlos. Emiel de Wild geht in seinem Debütroman ›Brudergeheimnis‹ auf beunruhigende Weise der Frage nach, wie die Folgen bösen Schweigens aussehen können. Von MAGALI HEISSLER

Emiel de Wild - BrudergeheimnisJuri ist noch nicht ganz zwölf, als er aus heiterem Himmel zur Großmutter verfrachtet wird. Er kann sich nicht einmal von seinem älteren Bruder verabschieden. Er schreibt ihm, aber er bekommt keine Antwort, auf den ersten Brief nicht und auch nicht auf die folgenden. Zunächst hält Juri das für einen Scherz, der Eltern etwa, oder des Bruders, der voller verrückter Teenagereinfälle steckte. Als die Eltern ihn endlich abholen, muss er feststellen, dass die Familie umgezogen ist und sein Bruder aus dem Familienleben verschwunden. Selbst seine Sachen sind fort. Gesprochen wird nicht darüber, die Eltern halten diesbezüglich eiserne Regeln ein.

Juri ist verwirrt, unsicher, trotzt, nichts hilft. Das Geheimnis bleibt ein Geheimnis. In der neuen Schule findet er sich gut zurecht, nur die Frage, ob er Geschwister hat, drückt. Bald bedrückt ihn auch das zunehmend schwierigere Verhalten seiner Mutter.

Frischen Wind in sein Leben bringt Lonneke, ein Mädchen aus seiner Klasse. Sie ist lebhaft und fröhlich, vor allem aber ist sie äußerst neugierig. Fasziniert und tief beunruhigt zugleich läßt Juri sich darauf ein, das Familiengeheimnis zu lüften. Aber rasch stellt sich die Frage, ob die Lösung des Rätsels überhaupt zu ertragen ist.

Vor besten Absichten wird gewarnt

de Wild erzählt eine Geschichte, die hin und wieder schon erzählt wurde, aber er erzählt sie ohne die mundgerechten Spannungsbögen, fernsehreifen Actionszenen und vor allem ohne jede klebrige Moral. Er erzählt schlicht, schließlich spricht Juri und der ist zunächst erst knapp zwölf. Seine Verständnislosigkeit, die Verwirrung, Zorn und letztlich Ergebenheit werden ausgesprochen lebendig und machen vom ersten Satz an deutlich, dass es sich hier nicht einfach nur um eine unterhaltsame Rätselgeschichte handelt.

Der ältere Bruder hat etwas getan, was unaussprechlich ist für die Eltern und deswegen auch nicht ausgesprochen wird. Der Entschluss, Juri nicht zu informieren, wird mit einer Konsequenz durchgeführt, die auch einem jungen Publikum deutlich vor Augen führt, wie grausam die Folgen bester Absichten sein können.

Juris Gegenwehr scheint verhalten, doch der Grund dafür ist ein sehr richtiger und gut getroffener. Er liebt seine Eltern und das bremst ihn immer wieder aus. Liebe und gute Absichten verkehren sich zu seelischer Qual, die die Familie insgesamt und jedes einzelne Mitglied an den Rand des Untergangs bringt.
Die Figuren sind nicht besonders sympathisch, abgesehen von Juri. Sie wirken schwach, hilflos angesichts schwerer Belastungen, launisch, verängstigt, auch gemein. Es sind keine Heldinnen und Helden, sie versagen und das recht kläglich. Identifizieren kann sich die Leserin allein mit Juri, seinen inneren Kämpfen, aber auch seinem Nachgeben, das ebenso ein Versagen ist. Freundin Lonneke ist ebenfalls nicht sehr positiv, sie ist aufdringlich, zudringlich, vorlaut und legt ein paar recht eigentümliche Verhaltensweisen an den Tag. Warum das so ist, klärt sich am Ende. Auch sie ist ein Opfer bester Absichten.

Gewalt und Gegengewalt

›Brudergeheimnis‹ ist eine Studie einer Familien, die sich schlagartig mit offener Gewalt auseinandersetzen muss. Die Erwachsenen schaffen das nicht, weil sie sich mit dem Thema nie beschäftigt haben. Gewalt ist etwas, das andernorts passiert. Nicht ihnen, den anständigen Menschen, die es gut meinen und immer nur das Richtige tun wollen. Dementsprechend begreifen sie nicht, welche Gewalt sie ihrerseits ihrem jüngsten Mitglied antun, indem sie es zwingen, einen Teil seiner elf Lebensjahre einfach zu vergessen. Erwachsene in dieser Geschichte drücken sich vor ihrer Verantwortung und tun genau das, was sie für das Schlimmste halten, Schwächeren Leid zufügen.

de Wild stellt harte Fragen und macht sich die Antworten nicht leicht. Verdrängen, vergessen, auslöschen ist keine Lösung. Schuldzuweisungen ebenso wenig. Juri kämpft mit Abneigung bis zum Hass auf die Eltern, als er auf das Lügengewebe stößt. Das ist sehr realistisch dargestellt, ebenso wie der Zusammenhalt unter den Erwachsenen in ihrer Unfähigkeit zur Auseinandersetzung. Hilfe von außen gibt es hier keine, das macht die Lektüre bedrückend. Helfen kann man nur sich selbst. Der Held hier ist der am Ende fast dreizehnjährige Juri.

Das Buch beginnt mit seinen Briefen, hat einen erzählenden Mittelteil und endet folgerichtig mit Briefen, einer davon ein sehr langer. In ihm wird die andere Seite der Geschichte erzählt. Nicht alles wird erklärt, manches muss man hinnehmen, die Lektüre der letzten beiden Briefe ist ebenso bedrückend wie die des Rests des Buchs. Aber es gibt eine Hoffnung, einen Weg und man kann sich aufrappeln und ihn gehen. Das Buch läßt das junge Publikum nicht allein zurück.

Eine bedrückenden und beunruhigende Geschichte, die wegen ihrer schonungslosen Ehrlichkeit und einem beeindruckend gestalteten kleinen Helden überzeugt, passgenau übersetzt und mit einer nicht nur schönen, sondern sorgsam durchdachten Ausstattung.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Emiel de Wild: Brudergeheimnis
(2013 Broergeheim, a.d. Niederländischen von Rolf Erdorf)
Stuttgart: Freies Geistesleben 2016
200 Seiten, 17,90 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
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