Fabriken der Biotechnologie

Gesellschaft | Bernard Lown: Heilkunst. Mut zur Menschlichkeit

Da scheiden sich die Geister – es immer wieder eine denkwürdige Erfahrung, dass öffentliche Aussprache über Medizin hierzulande üblicherweise nach den Vorgaben und Regeln einer übermächtigen Gesundheitsindustrie erfolgt. Was jenseits dieses regulierten Territoriums stattfindet, dringt nicht durch. So erscheint auch der hier rezensierte Band in einem medizinischen Fachverlag, einer Nische, und gewinnt nicht die Öffentlichkeit, die er von vornherein verdient hätte. Von WOLF SENFF

Bernard Lown - HeilkunstBernard Lown erhielt 1985 gemeinsam mit dem Russen Charow den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz gegen die weltweite atomare Aufrüstung. »Heilkunst« ist ein Folgeband seines vor zehn Jahren erschienenen »Die verlorene Kunst des Heilens, Anstiftung zum Umdenken« – beides keineswegs abgehoben formulierte Fachbücher, sie wären zweifellos eine Zierde unserer bedeutenden Publikumsverlage.

Vom etablierten Medizin-Betrieb

Wie eine mächtige deutsche Automobilindustrie sich dagegen sperrt, Dieselkraftstoffe wegen deren besonders gefährdender Abgase aus dem Verkehr zu ziehen – was in anderen Ländern längst geschah –, genau so sperrt sich die deutsche pharmazeutische Industrie dagegen, dass über nichtindustrielle Methoden des Heilens in den ›Leitmedien‹ öffentlich und unvoreingenommen nachgedacht wird. Man hat den Eindruck, hier herrscht eine Atmosphäre eines ›Kalten Krieges‹, in dem jede nicht mit der ›Apparatemedizin‹ verknüpfte Therapie ausgegrenzt wird.

»Heilkunst« ist eine Sammlung von Beiträgen Bernard Lowns zu verschiedenen Themen der Medizin, und bereits der erste Beitrag lässt das gespannte Verhältnis Lowns zum etablierten Medizin-Betrieb deutlich werden. Es geht um die Neigung von Kardiologen, Bypässe zu legen.

Wie therapiert man seelischen Schmerz?

Lown bestreitet nicht die Notwendigkeit, diese Operationen durchzuführen, aber er zeigt an konkreten Beispielen, wie kontraproduktiv sich diese Operation auswirken kann, und klagt die Leichtfertigkeit an, mit der sie eingesetzt wird, denn sie füllt die Kassen. Diese privatwirtschaftliche Automatik des rollenden Rubels wurde hierzulande endgültig etabliert, als die Krankenhäuser in privaten Besitz übergingen, sie betrifft längst nicht allein die Kardiologie.

Seine Sprache ist kein Fachchinesisch, sondern sie ist stets dicht am Menschen, etwa als er die Problematik seelischen Schmerzes darstellt. Wir haben uns daran gewöhnt, dass diesbezüglich von einem ›Trauma‹ geredet wird, für das es eine Zuständigkeit gibt und das behandelbar, lösbar ist. An einem eindringlichen Beispiel verdeutlicht er, dass seelischer Schmerz einen Menschen verändert und ihm gleichsam den Boden unter den Füßen wegziehen kann.

USA: der lange Schatten der Sklaverei

Die Medizin bzw. unsere geläufige Vorstellung von Medizin ist offenbar ein Wolkenkuckucksheim, ein Konstrukt, das uns in trügerischer Sicherheit wiegt. Was sagt man dazu? Generell scheint es unsere Lieblingsbeschäftigung, dass wir uns in trügerischer Sicherheit wiegen und nicht einmal die Politiker die realen Gefährdungen zur Kenntnis nehmen, geschweige denn dass sie sie eindämmen, mildern, auflösen.

Bernard Lown wirft seinen Blick weit in die Gesellschaft, er fällt auf den Schatten, den die längst überwunden geglaubte Sklaverei noch heute wirft – Lown beschreibt den Rassismus in den Gewohnheiten und Praktiken amerikanischer Krankenhäuser, der weitreichende Konsequenzen für das alltägliche Leben hat.

Die hohe Kunst des Zuhörens

Er ist einfach anders positioniert. Er mahnt vor den Gefahren eines medizinischen Dogmatismus und ruft jenen »heiligen« Moralkodex in Erinnerung, demzufolge, primum nihil nocere, zuallererst kein Schaden zugefügt werden dürfe. Er fordert intensive Gespräche zwischen Arzt und Patient und zieht deutliche Grenzen zu den standardisierten Diagnosen und Therapien des medizinischen Alltags.

Thematisch bietet Bernard Lown dem Leser eine tour d`horizon. Zielsicher beschreibt er Aspekte einer Kunst des Zuhörens, die gar nicht hoch genug einzuschätzen sei – und im übrigen auch für den Nichtmediziner hilfreich. Die Erfahrungen, die er beschreibt, sind ergreifend, und immer wieder klingt durch, dass für eine nachwachsende Ärztegeneration ein irreführendes Vertrauen in eine Wissenschaftlichkeit des Berufs und in die verfügbaren Technologien den beruflichen Alltag bestimmt.

Eine ›Kultur der Medikalisierung‹

Krankenhäuser seien hoch technologisierte, exakt durchorganisierte Institute, in denen für den menschlichen Kontakt, die ärztliche Kunst des Heilens keine Zeit vorhanden sei. Bernard Lown ist ja nicht der erste, der diese kritische Haltung einnimmt, und das einzige, worüber man sich vielleicht noch wundert, ist die Kaltschnäuzigkeit, mit der die angesprochenen Entwicklungen, aller überzeugenden Kritik hohnlachend, fortgesetzt werden.

Die menschenverachtenden Züge des Mammons bieten sich hier ungeschminkt dar. Und vor diesem Hintergrund dürfte die Forderung nach einer »Humanisierung der Gesundheitsfürsorge« wenig mehr sein als ein gut gemeinter moralischer Appell. Bernard Lown konstatiert selbst, dass wir in einer Kultur der Medikalisierung leben, die unsere Ängste fördere und vergrößere. Krankenhäuser seien Fabriken der Biotechnologie.

Vom Auftritt der Marktschreier

Er führt eine Untersuchung an, derzufolge die für eine Diagnose erforderlichen Informationen zu fünfundsiebzig Prozent aus der sorgfältig erhobenen Krankengeschichte gewonnen werden, zu zehn Prozent aus der körperlichen Untersuchung und lediglich zu fünf Prozent mithilfe der umfangreichen und kostspieligen Technologien und zu weiteren fünf Prozent aufgrund simpler Tests wie einer Urin- oder Blutprobe (zu weiteren fünf Prozent ließen sich die Erkrankungen nicht diagnostizieren).

Das sagt eigentlich alles über den marktschreierischen Anspruch und über die Wirklichkeit von Technologie im Gesundheitswesen.

WOLF SENFF

Titelangaben
Bernard Lown, Heilkunst. Mut zur Menschlichkeit
Stuttgart: Schattauer Verlag 2015
308 Seiten, 24,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Please no unnecessary drama, baby!

Nächster Artikel

Sozial, aber nicht demokratisch!

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Vom Ende des Begehrens

Gesellschaft | Byung-Chul Han: Agonie des Eros Vorsichtige Einwände treffen das Format, nicht den Inhalt dieses Essays, der beinahe fast-food-like präsentiert wird. Nicht leicht verdauliche Inhalte sind in angenehm beschwingtes Design gekleidet, ein Schnupper-Paket gewissermaßen mitsamt einer Verpackung, die zum Konsum verführt. Man könnte meinen, dass der Verlag seine Leser von dort abholen möchte, wo sie sich befinden. Damit wären wir beim Thema der Agonie des Eros. Von WOLF SENFF

Erneuerte Demokratie durch Widerstand

Gesellschaft | Costas Douzinas: Philosophie und Widerstand in der Krise Da sind wir an der Quelle, möchte man ausrufen, endlich! Und würde selbst einigermaßen verblüfft rückfragen, um welche Quelle es sich denn handle. Quelle Europas? Quell des Ärgers? Quelle der Nachlässigkeit? Quell der Besinnung? Quelle einer neuen Gemeinsamkeit? Schon gut, wir nehmen zur Kenntnis, dass sich mit Costas Douzinas ein gebürtiger Grieche in die Auseinandersetzung um die Integration Europas einschaltet, warum sollte er nicht, das war längst an der Zeit. Nein, besonders viele ins Deutsche übertragene Beiträge von Griechen liegen dazu bislang nicht vor. Von WOLF SENFF

Eine Riesenmenge Faktenlage

Gesellschaft | George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika Diese Darstellung schildert Odysseen, und oft sind diese Irrfahrten abenteuerlicher noch als das Vorbild, fremdgesteuert jedes Leben, dass man sich fragt, wozu das gut sein soll. Unbarmherzig angetrieben von Geiz wie Sam Walton, Begründer und Eigentümer von Wal-Mart, der mit seinen überbordenden Expansionen – »Das ganze Land war eine Art Wal-Mart geworden« – eine verheerende ökonomische und kulturelle Monostruktur schuf und, ohne dass es in seiner Absicht gelegen hätte, den Zerfall gesellschaftlichen Zusammenhalts betrieb. Von WOLF SENFF

Das Verhängnis einer Liebe

Menschen | Ingeborg Bachmann, Max Frisch: »Wir haben es nicht gut gemacht«

Von Juli 1958 bis zum Frühjahr des Jahres 1963 dauerte die Liebesbeziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch – zum Ende hin war sie vergiftet und zerbrach. Immer wieder ist über sie in der literarischen Öffentlichkeit gestritten worden mit Frisch in der Rolle des Böswichts und Bachmann in der des Opfers. Ein neues Editionswerk verlangt nach einer Korrektur der Sicht auf diese unheilvolle Beziehung der österreichischen preisgekrönten Lyrikerin und dem schweizerischen Erfolgsautor. Von DIETER KALTWASSER

Fantasie ohne Grenzen

Gesellschaft | Ophélie Chavaroche/ Jean-Michel Billioud: Atlas der utopischen Welten

»Eine Utopie ist der Entwurf einer möglichen, zukünftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist.« Soweit die Definition, gut und schön, aber den Atem raubt einem erst das, was in diesem Bildband zum Thema »Utopie« präsentiert wird. Mit der so nüchtern klingenden Definition hat das dann nämlich nicht mehr viel zu tun, meint BARBARA WEGMANN.