Gesellschaft | George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika
Diese Darstellung schildert Odysseen, und oft sind diese Irrfahrten abenteuerlicher noch als das Vorbild, fremdgesteuert jedes Leben, dass man sich fragt, wozu das gut sein soll. Unbarmherzig angetrieben von Geiz wie Sam Walton, Begründer und Eigentümer von Wal-Mart, der mit seinen überbordenden Expansionen – »Das ganze Land war eine Art Wal-Mart geworden« – eine verheerende ökonomische und kulturelle Monostruktur schuf und, ohne dass es in seiner Absicht gelegen hätte, den Zerfall gesellschaftlichen Zusammenhalts betrieb. Von WOLF SENFF
Odyssee? Ist das nicht reichlich Jahre her? Und trotzdem. Es gibt nichts Neues unter der Sonne – auch dieser Satz wurde vor langer Zeit niedergeschrieben, und man hat den Eindruck, dass er keine Handbreit neben der Spur liegt.
Der Boden entgleitet
Packer erzählt diverse Biographien, darunter besonders ausführlich von drei Personen: Einer Industriearbeiterin aus Youngstown, Ohio, die den Niedergang der Stahlindustrie, der Tabakproduktion, der Textilindustrie erlebt und zur Sozialarbeiterin wird; eines umtriebigen Unternehmertyps aus North Carolina, der mit der Produktion von Biodiesel aus Rapsöl Gewinn erwirtschaftet; eines Washingtoner Lobbyisten, an dessen Beispiel deutlich wird, wie morbide die Strukturen der Demokratie geworden sind.
Packer zeichnet das Bild einer äußerst geschäftigen, aber ziellosen Nation, der materiell wie moralisch der Boden unter den Füßen entgleitet, bzw. einer eben doch nicht ganz ziellosen Nation, die sich allein ihrer Gier nach Geld ausliefert.
Ein großflächig angelegtes Gesamtbild
Eingestreut in diese Schilderungen sind elf kürzere Biografien über bekannte Amerikaner, darunter der Rapper Jay-Z, der Republikaner Newt Gingrich, die Restaurantbesitzerin Alice Waters und der Unternehmer Peter Thiel, der wesentlich am Erfolg von Pay Pal und Facebook beteiligt war, sowie Oprah Winfrey, Raymond Carver, außerdem ein Kapitel für Colin Powell, der in der Rede vor der UNO 2003 seine Lüge über die Vernichtungswaffen Saddam Husseins vortrug und die Invasion in den Irak »moralisch« begründete, eines für Robert Rubin, Finanzminister unter Bill Clinton.
Er verweist auf zentrale Weichenstellungen wie den Glass-Steagall-Act, mit dem nach der Großen Depression in den USA 1932 bzw. 1933 das Trennbankensystem eingeführt wurde. Dessen Annullierung durch Präsident Clinton im Jahr 1999 gilt als Ursache für die sich unkontrolliert ausbreitende »Globalisierung« und für die Finanzkrise von 2008.
Wie Politik sich in die Tasche lügt
Es ist eine unglaubliche Fleißarbeit, George Packer trägt eine Unzahl an Fakten zusammen, man versteht, welches Bild er von den USA zeichnet. Manchmal wird es einfach zu viel an Faktenlage, und das Buch lädt ein, in Auszügen zu lesen, also etwa die diversen Abschnitte über Jeff Connaughton nacheinander, das ist letztlich vermutlich die ergiebigere Methode, oder den Teil über Raymond Carver, in dem Packer die hiesige euphorische Raymond-Carver-Rezeption der neunziger Jahre mit bodenständiger Deutung unterfüttert.
Oder man liest die Abschnitte über Tampa, Florida, die den Verfall einer ambitionierten Stadt beschreiben sowie den Parteitag der Republikaner von 2012 in dieser Stadt, der ein furchterregendes Beispiel dafür ablegt, wie sich Politik über Realität in die Tasche lügt bzw. sich beharrlich weigert, gesellschaftliche Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.
Titelangaben
George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika
(The Unwinding. An Inner History of the New America, New York 2013; aus dem Amerikanischen von Gregor Hens)
Frankfurt: Fischer 2014
510 Seiten, 24,99 Euro
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