Roman | Marie Malcovati: Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte
Am Basler Bahnhof treffen drei Menschen, drei Schicksale, drei Lebensläufe aufeinander. Stoff genug für Gedankenexperimente, Vorstellungen und Träume. Bei Marie Malcovati entstand aus dieser Idee ausnahmsweise kein Drehbuch, sondern ein beachtliches Romandebüt. ›Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte‹ lässt Leerstellen nur erahnen. Von INGEBORG JAISER
Bahnhöfe sind Orte der Ankunft und des Abschied, der Durchreise und des Transfers, aber auch Kulisse für menschliche Dramen und Tragödien. Stets bergen sie die Gefahr des Verpassens oder Zuspätkommens in sich, genauso wie die Chance unerwarteter Begegnungen. Marie Malcovatis Debütroman ›Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte‹ verdichtet als ungewöhnliches Kammerspiel die Geschichte dreier Personen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, deren Wege sich jedoch – durch Zufall oder göttliche Fügung? – an einem Bahnhof kreuzen. Wobei ihre Lebenslinien fast haarscharf auseinandergedriftet wären.
Stellen wir uns den Basler Bahnhof als Theaterbühne vor. Im größten Grenzbahnhof Europas rollen Fernzüge aus Deutschland, Italien und Frankreich ein, vermengen sich Kulturen, Reisende, Ziele. Über den holzvertäfelten Ticketschaltern erstrecken sich überdimensionale Wandbilder des Malers Ernst Hodel, die den Vierwaldstättersee, das Matterhorn, das Jungfraujoch darstellen. Ein Ort, der Heimatverbundenheit und Tradition suggeriert.
Rohmaterial eines Experimentalfilmes
Müde und von Schmerztabletten sediert starrt der Kantonspolizist Beat Marotti auf dieses Bühnenbild. Abseits sitzt er, in einem abgedunkelten Raum, vor Überwachungsbildschirmen, die monotone Bildabfolgen zeigen, »wie das ungeschnittene Rohmaterial eines quälend langweiligen Experimentalfilms«. Normalerweise erfolgt die Übertragung in Farbe – doch aufgrund eines technischen Defekts heute nur in Schwarzweiß. Passend zu Marottis aktuellem Gefühlszustand. Von seiner großen Liebe verlassen, nach einem Unfall von Schmerzen geplagt, hat er sich lieber für den Innendienst zuteilen als krankschreiben lassen. Nach einer Terrorwarnung sind Sonderschichten angesagt.
Sein Blick bleibt an zwei außergewöhnlichen Gestalten hängen, die nebeneinander auf einer Bank sitzen. Eine schmale, teuer gekleidete junge Frau, die weder nennenswertes Gepäck mit sich trägt, noch Anstalten macht, in einen der Züge einzusteigen. Daneben ein Mann in einem exzentrischen Legionärskostüm, das der »überlieferten Bekleidung eines römischen Offiziers im 1. Jahrhundert vor Christus« nachempfunden ist. Eine alberne Verkleidung, ein Werbegag, eine Performance – oder doch die Vermummung eines Aktivisten? Marotti zoomt die Szenerie heran.
Simultanübersetzerin trifft Millionenerbe
Die Geschichte springt kapitelweise zwischen diesen drei Personen hin und her. Wirft kurze Schlaglichter auf den einsamen Polizisten Marotti, die kosmopolitische, sich ständig wandelnde und wie eine Schlange häutende Simultanübersetzerin Lucy, sowie auf Simon, den trägen, antriebslosen Erben eines Zahnpastaimperiums. Alle drei scheinen ihrer Heimat, ihrer Familie beraubt zu sein, wirken merkwürdig desorientiert und fehl am Platze. Sollte sich die Anschlagsdrohung als Fake erweisen, müssten die Bilder der Überwachungskamera nach 24 Stunden gelöscht werden. Macht dies nicht jeden Moment einzigartig und vergänglich, fast wie bei Snapchat? Marotti traut sich kaum, seinem Platz zu verlassen, versucht sogar, versteckt einen Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Doch die Idee der Überwachung und Kontrolle entpuppt sich als Illusion.
›Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte‹ birgt schon als undurchschaubarer Titel eine Vermutung von Enttäuschung, falschen Erwartungen, Fehlschlägen. Auch der Leser liegt oftmals falsch, wenn er sich von den knapp skizzierten Personen ein umfassendes Bild zu machen versucht. Mehrmals nimmt die Story eine unerwartete Wendung. Dass die Autorin Marie Malcovati dies alles auf knapp 125 Seiten zu reduzieren vermag, zeugt von sprachlichem Können und szenischer Verdichtung. Kein Wunder, hat Malcovati doch Drehbuch und Filmwissenschaften studiert. Ihr schmaler, leichter Erstlingsroman ist ein spannender Reisebegleiter – nicht nur auf Fahrten nach Basel.
Titelangaben
Marie Malcovati: Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte
Hamburg: Edition Nautilus 2016
126 Seiten. 16.- Euro
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