Roman | Bettina Wilpert: nichts, was uns passiert
Eine Partynacht, viel Alkohol, zwei unterschiedliche Ansichten: Anna ist völlig verstört, weil Jonas sie vergewaltigt hat. Doch der behauptet, es war einvernehmlich. Dies ist nicht nur für die beiden der Beginn einer schmerzhaften Suche nach der Wahrheit. Von MONA KAMPE
»Hannes half Jonas, Anna die Treppen hochzubringen. Die Wohnung lag im dritten Stock, Anna hätte es allein nicht geschafft. Sie war so betrunken, sie konnte nicht mehr stehen, und es war besser, wenn sie bei Jonas übernachtete. Jeder vernünftige Freund hätte so gehandelt. Er dachte später oft darüber nach, ob er etwas falsch gemacht hatte. Hätte er die beiden nicht allein lassen dürfen?« Denn Monate später erfährt er von seinem Freund Jonas, dass Anna diesen wegen Vergewaltigung angezeigt hätte.
Hannes ist schockiert, Jonas sagt ihm, er wäre nie zu so etwas fähig und bittet ihn um Vermittlung, denn auch er ist mit Anna befreundet. Er tut ihm den Gefallen und besucht Anna, um herauszufinden, ob diese lügt. Sie wird wütend und macht ihm klar, dass er ihr entweder glaubt oder ihre Freundschaft beendet ist. Hannes weiß nicht mehr, wem er glauben soll und gerät in ein arges Dilemma, das ihm schlaflose Nächte einbringt: »Wäre es nach ihm gegangen, hätte er den Kontakt mit Anna nicht abgebrochen, es musste möglich sein, mit beiden befreundet zu sein, egal was passiert war. Er wollte niemanden verurteilen. Aber Jonas und Anna sahen es anders. Beide wollten, dass er Position bezog, und natürlich, in dem Moment sah es so aus, als stehe er auf Jonas’ Seite, aber das tat er nicht. Er wollte nur nicht noch einen Freund verlieren. Doch er musste wissen, wem er glauben konnte.«
Denn Jonas und Anna sehen es anders, was in der Nacht am 4. Juli geschah. Anna hat einen Filmriss und erinnert sich nicht, wie sie von der Party in Jonas Zimmer gekommen ist. Sie registrierte damals nur, wie er ihr die Hose auszog, versuchte Widerstand zu leisten, aber gab irgendwann auf, weil er stärker war. Er war grob und aggressiv. Sie zählte die Sekunden, 1380. Aus Jonas‘ Sicht war der Sex hingegen einvernehmlich, sie waren beide sehr betrunken gewesen. Er hatte sich nicht gewundert, dass Anna am nächsten Morgen verschwunden war. Für ihn war es, wie beim ersten Mal etwas Lockeres gewesen. Ja, Anna und er haben eine Vorgeschichte.
Die Wahrheit und ihre zwei Gesichter
Jonas mag Anna. Er kann mit ihr über Literatur diskutieren. Aber gleichzeitig geht etwas Willkürliches und Kindisches von ihr aus. Er ist noch nicht ganz über seine langjährige Ex-Beziehung hinweg, das hatte er ihr nach einem One-Night-Stand klar gemacht, daher hatte er nicht weiter darüber nachgedacht. Anna war laut ihrer Aussage auch an nichts Ernsthaftem interessiert gewesen, daher akzeptierte sie sein Nein, als sie ihn vor dem 4. Juli auf etwas Unverbindliches zu sich einlud. Die Party führte die beiden wieder zusammen.
Alle sprechen über den Doktoranden, der eine Studentin vergewaltigt haben soll. Die Glaubwürdigkeit beider steht auf der Kippe, nicht nur bei gemeinsamen Freunden und Bekannten. Anna kämpfte zwei Monate mit sich, ehe sie auf das Anraten ihrer Schwester hin zur Polizei ging und die Ereignisse der Nacht schilderte. Dann wird Anna erneut vorgeladen, da die Beamten bei Jonas neue Indizien gefunden haben, die aufzeigen, dass sie ihm nach der besagten Nacht entgegen ihrer Angaben Nachrichten geschickt hat. Die Beweislage wird dünner.
Nicht nur der allwissende Ich-Erzähler, mithilfe dessen Autorin Bettina Wilpert in ihrem Debütroman ›nichts, was uns passiert‹ die Geschichte von Anna und Jonas erzählt, sieht sich mit einem Berg von Widersprüchen und Unklarheiten konfrontiert. Gekonnt führt dieser die Befragung aller Partizipenten der Nacht des 4. Juli durch und trifft auf zwei kontroverse Wahrnehmungen, Für- und Widersprecher und konfuse Gemüter.
Wilpert gelingt es mit direkten, prägnanten Aussagen und schonungslosen Emotionen die Eindrücklichkeit, Verzweiflung und Absurdität der Lage zu schildern, in der sich beide Protagonisten befinden. Auch die unmittelbaren Auswirkungen auf das Umfeld werden eingehend dargestellt.
Im Zuge der ›#MeToo-Debatte‹ und den aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen, in denen (Macht-)missbrauchte Frauen ihr Schweigen auch in der Öffentlichkeit brechen und Rollenbilder sowie -klischees stärker denn je infrage gestellt werden, ist das Werk ein essenzieller Beitrag. Es rüttelt auf, bewegt und führt uns die Folgen einer (mutmaßlichen) Vergewaltigung für alle Beteiligten unmittelbar vor Augen. Wir müssen (genau) hinsehen – auch wenn die Wahrheit zwei Gesichter hat.
Titelangaben
Bettina Wilpert: nichts, was uns passiert
Berlin: Verbrecher Verlag 2018
Zweite Auflage, 168 Seiten, 19 Euro
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