Jugendbuch | Antje Wagner: Hyde
Es gibt Erfahrungen, die Menschen machen müssen, an denen sie zerbrechen. Oder sie finden Wege, damit umzugehen. Die 18jährige Katrina steht an einem Scheideweg, der über ihr weiteres Leben entscheiden wird. Von ANDREA WANNER
Katrina ist Tischlerin auf der Walz. Als eine der wenigen jungen Frauen alleine in Süddeutschland unterwegs hält sie sich an die Zunftregeln: Die Fortbewegung darf nichts kosten, die Übernachtung auch nicht. Durch Handwerkstätigkeiten versucht sie, von einer Unterkunft zur anderen zu gelangen. Aber was sie vorwärtstreibt, sind andere Motive, als nur die neuen Fertigkeiten in ihrem Fach kennenzulernen. Katrina sinnt auf Rache.
Eine Wahrsagerin kreuzt ihren Weg und die Aushilfskellnerei, zu der die dem kranken Mädchen verhilft, entpuppt sich als ein mehr als fragwürdiger Job. Mit einem gestohlenen Auto landet sie mitten in einem Schneesturm in einem einsamen Haus im Wald, für das – welch ein Zufall – ein Verwalter gesucht wird. Genau das, was Katarina sucht, um alte Wunden zu lecken und sich auf neue Herausforderungen einzulassen.
Antje Wagner hat mit Jugendromanen wie ›Unland oder Vakuum‹ oder bereits raffinierte, ebenso düstere wie berührende Geschichten erzählt. Das Schicksal von Katrina lässt sie die junge Frau in der Ich-Perspektive erzählen und verwebt dabei zwei Handlungsstränge: Katrinas Kindheit an der Seite der Zwillingsschwester Zoe mit dem Vater in Hyde, einem versteckten Ort im Wald und die Zeit nach der Katastrophe, die dem Idyll ein jähes Ende bereitete.
Die beiden Zeitebenen wechseln plötzlich und unvermittelt, manchmal motiviert durch Erinnerungen an eine bestimmte Situation, einen Geruch oder eine Stimme. Das Leben im Wald ohne Strom und fließendes Wasser, mit Tieren und Pflanzen und einer innigen Naturverbundenheit haben das Mädchen geprägt. Die Zeit danach nennt sie »die Gefangenschaft« und es dauert ein Weilchen, bis die einzelnen Teile zeitlich und inhaltlich zu einem Ganzen sortiert sind.
Aber das, was passiert ist, ist so ungeheuerlich, dass gerade diese Art des Herantastens den Schrecken und die Verletzungen nachvollziehbar und glaubwürdig machen. Katrina hat alles verloren und die Chance eines Neuanfangs scheitert daran, dass sie kein Vertrauen mehr zu anderen Menschen aufbauen kann – aus gutem Grund.
Schön geschildert ist das Leben in und mit der Natur. Wie aus Kastanien ein Putzmittel wird, wie Streichhölzer in Wachs getaucht werden, um sie vor Nässe zu schützen, oder selbst gepflückter Thymian, Rosmarin und Fichtennadeln das Badewasser duften lassen. Eine innige Verbundenheit mit den Lebewesen im Wald lässt Katrina und ihre Schwester zu aufmerksamen Mädchen heranwachsen, die sich in jeder Situation zu helfen wissen. Katrina wird viel von diesem Wissen noch brauchen können.
Das alles hätte in einen packenden Krimi münden können, Antje Wagner entscheidet sich für eine psychologische Studie mit parapsychologischen Momenten. Das muss man mögen, sonst wird der Roman zu einem fragwürdigen Gespenstergrusel. Wer sich darauf einlassen kann, wird die Bilder, die für die Entwicklung der jungen Heldin stehen, ihre Entdeckungen und der Kraft, die sie in sich findet, um alles durchzustehen, als packende und eindrückliche Lektüre genießen.
Titelangaben
Antje Wagner: Hyde
Weinheim: Beltz & Gelberg 2018
408 Seiten, 17,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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