Jugendbuch | Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht
Mit Schwierigkeiten hat die 14jährige Emilia gerechnet, als sie mit der Kreditkarte ihres Vaters einen Flug gebucht hat und einfach nach New York verschwunden ist. Allerdings sehen sie anders aus als vermutet. Von ANDREA WANNER
Emilia ist abgehauen. Dass ihr Vater eine Klassenkameradin anhimmelt – und womöglich noch mehr getan hat – ist schlicht nicht auszuhalten. Die Sozialen Netzwerke sind voll mit der Geschichte und die Flucht zu ergreifen erscheint ihr das einzig Richtige. New York war schon immer ihr Traum, also legt sie eine falsche Fährte und landet tatsächlich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Sie hat an alles gedacht, auch von den Niederlanden aus ein Appartement gebucht und bereits bezahlt. Das allerdings erweist sich als Fehler, denn die Unterkunft gibt es gar nicht. Und als Minderjährige kommt sie ohne Begleitung eines Erwachsenen auch in keinem Hotel unter. Und jetzt?
Anna Woltz entwirft eine ziemlich ausweglos erscheinende Situation, die einer 14jährigen jede Menge abverlangt. Das Chaos, das Emilia hinter sich gelassen hat, war schon groß. Was jetzt auf sie wartet, sieht zwar nach Freiheit aus, fordert dem Teenager aber eine Menge ab. Emilia ist eine, die auf Distanz bleibt – im wörtlichen Sinne. Sie leidet an einer Zwangsneurose, muss sich ständig die Hände waschen, duschen, Dinge, mit denen sie in Berührung kommt, desinfizieren. Das wäre vermutlich kein so großes Problem, wäre da nicht Sandy.
Der Sturm kommt
Hurrikan Sandy ist im Anmarsch, jener tropische Sturm, der im Oktober 2012 auf seiner Bahn verheerende Schäden anrichtete. Jetzt braust er auf New York zu und Emilia braucht dringend einen Unterschlupf. Den findet sie bei den Geschwistern Seth und Abby und einem weiteren Typen, dem umwerfenden Jim, der ebenfalls in der Wohnung von Seth und Abby Unterschlupf findet. Vorbereitungen werden getroffen, so gut es eben geht. Und dann scheint das Ende der Welt gekommen, der Strom fällt aus, es wird dunkel. Es gibt kein fließendes Wasser mehr und gegen die eisige Kälte hilft nur das enge Zusammenrücken. Eine Herausforderung für alle.
Wie reagieren Menschen in solchen Extremsituationen? Was bleibt wichtig? Was wird wichtig? Woltz ist eine exakte Beobachterin und folgt ihren Figuren aufmerksam. Sie lässt Emilia als Ich-Erzählerin sprechen, ihre Erfahrungen machen, Entscheidungen treffen. Das, wovor sie weggelaufen ist, verändert sich, wird zur viel grundlegenderen Frage danach, wie ihr Leben überhaupt aussieht. Und zwei attraktive Jungs direkt vor ihrer Nase lassen schnell ahnen, dass es auch eine Liebesgeschichte geben wird. Es gibt sie. Denn wenn es hundert Stunden lang Nacht ist, kommen sich Menschen näher.
Die Erwachsenen tauchen natürlich auch irgendwann wieder auf, aber da ist Sandy schon weitergezogen, hat New York und die vier Bewohner des Orkanasyls für immer verändert.
Titelangaben
Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht
(Honderd uur nacht, 2014). Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Hamburg: Carlsen 2017
254 Seiten. 15,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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