Trauerarbeit

Jugendbuch | Marlies Seegers: 16x Himmel und zurück

Pelle hat seinen Vater verloren. Aber für ihn fühlt es sich an, als wäre seine Mutter seither auch nicht mehr da. ANDREA WANNER freut sich über die einfühlsame Geschichte.

Ein Junge und sein Hund blicken zum Himmel, aus dem es Briefumschläge herabregnetDer Zwölfjährige hat den Boden unter den Füßen verloren. Ein Jahr ist sein Vater jetzt tot, an Krebs gestorben. Seine Mutter lässt sich gehen, raucht, wirkt abwesend. Pelle hat seine eigene Art der Ablenkung gefunden: Wenn er traurig zu werden droht, denkt er an Fakten. Daran, dass die Deutsche Dogge der größte Hund der Welt ist oder dass Arachibutyrophobie die Angst davor ist, dass Erdnussbutter beim Essen am Gaumen kleben bleibt. Nur nicht über Tod, Vergänglichkeit und Trauer nachdenken. Zum Glück gibt es noch Eva, seine Freundin und Klassenkameradin, seit er denken kann – und der er alles anvertraut. Aber auch das soll bald Vergangenheit sein.

Und dann, ein Jahr nach der Einäscherung seines Vaters, am 3. März, übergibt ihm seine Mutter einen Schuhkarton (Pelle erinnert sich noch genau an den Schuhkauf seines Vaters). Darin sind Briefe, 16 Stück, die ihm sein Vater noch vor seinem Tod geschrieben hat und die Pelle nun einen nach dem anderen nach genau festgelegten Regeln öffnen soll.

Vermutlich haben viele schon etwas von Cecelia Aherns 2004 erschienen Romandebüt ›P.S. Ich liebe Dich‹ gehört, in dem die irische Autorin erzählt, wie Gerry es schafft, seine Frau Holly auch nach seinem Tod noch zu trösten. Er hat ihr Briefe hinterlassen mit Aufgaben, die Holly erfüllen soll. Meist sind das ganz einfache Dinge, wie sich eine neue Nachttischlampe kaufen oder Karaoke singen. Sie helfen am Ende Holly zurück ins Leben. Der Roman war einer der meistverkauften Erstlingsromane im Jahre 2004 und führte in der irischen Presse sowie in der britischen ›Sunday Times‹ die Bestsellerlisten für 17 Wochen an.

So ähnlich funktioniert ›16x zum Himmel und zurück‹ auch – für junge Leserinnen und Leser. Pelle bekommt Aufgaben und Anregungen von seinem Vater, der ihn so gerne auf dem Weg ins Erwachsenwerden begleitet hätte. Zunächst einmal soll er das gemeinsam begonnene Bauhaus zu Ende bringen. Aber Pelle hat keine Lust. Das war ein Vater-Sohn-Projekt und überhaupt ist er jetzt zu alt dafür. Aber es ist ein Task, den er bewältigen soll. Also macht er sich lustlos an die Arbeit – und bekommt unerwartete Unterstützung. Und dann soll er ein Kleid für Mama kaufen und mit ihr zum Essen ausgehen. Eine klare Überforderung und da geht dann auch eine Menge schief.

Aber allmählich steigt Pelles Spannung: Was steht wohl in den anderen Briefen seines Vaters? Und die Katastrophe, als einer der Zettel abhandenkommt, ist grenzenlos und führt zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Anderseits: wer weiß, wozu der Verlust gut ist. Wie so manches anders kommt, als geplant und gedacht. Dafür so, wie es gut ist.

Ganz leicht hätte diese Geschichte sehr kitschig werden können. Es ist Marlies Slegers erzählerischem Können zu verdanken, dass die Balance immer gewahrt bleibt. Sie findet den richtigen Ton zwischen Ernst und Komik, zwischen Tragik und Lockerheit, zwischen Verzweiflung und Ausgelassenheit. Und sie zeigt einen überzeugenden Weg zurück ins Leben, den Pelle am Ende gehen kann. Und er ist dabei nicht allein.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Marlies Selgers: 16x Himmel und zurück
Illustriert von: Christiane Fürtges
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Hamburg: Dressler 2022
240 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Idolatrie

Nächster Artikel

Auf der Suche nach einem Zuhause und einer Heimat

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Weltenentdecker

Jugendbuch | D. Steinhöfel: P. B. Shelleys Die Wolke Fast zweihundert Jahre alt ist das Gedicht The Cloud – und im Unterschied zum Ursprungsland England hierzulande wenig bekannt. Als wichtiges Beispiel der Lyrik der Romantik umfasst es nicht allein Naturphänomene, sondern implizit auch die menschliche Existenz, in ihrer Großartigkeit wie ihren Schrecken. Von beidem hat sich Dirk Steinhöfel in seiner eigenwilligen Visualisierung von P.B. Shelleys Die Wolke anregen lassen und eine weitere neue Welt geschaffen. Sein Bruder Andreas Steinhöfel hat den Text ebenso eigen neu ins Deutsche übersetzt. Von MAGALI HEISSLER

Schreckenskammer

Jugendbuch | Dianne Touchell: Foster vergessen Was und wie viel Kinder von dem verstehen, was um sie herum vorgeht, wird von Erwachsenen gern unterschätzt. Probleme nicht anzusprechen, vergrößert das Leid von Kindern nur. In ihrem neuesten Buch erzählt Dianne Touchell davon, wie es sich für ein Kind anfühlt, wenn es in eine Schreckenskammer des Leidens und Schweigens versetzt wird. Von MAGALI HEIẞLER

Keine Liebesgeschichte

Jugendbuch | Regina Dürig: 2 ½ Gespenster Alles an Leo ist anders. Er taucht plötzlich aus dem Nichts auf, isst drei Stücke Mohn-Zitronen-Sahnetorte, ohne zu bezahlen, und gibt nicht nur der 16jährigen Jonna ein Rätsel auf. Von ANDREA WANNER

Formen des Widerstandes

Jugendbuch | Cornelia Franz: Swing High

In ihrem jüngsten Jugendbuch »Heul doch nicht, du lebst ja noch« schildert Kirsten Boie anhand von drei Jugendlichen die Situation in Hamburg im Juni 1945, kurz nach Kriegsende. Cornelia Franz beginnt ihre Hamburger Geschichte im August 1939, kurz vor Kriegsbeginn. Ein wichtiges Erinnern, findet ANDREA WANNER

Aufs Ganze

Jugendbuch | Antje Herden: Keine halben Sachen Robin findet sich und sein Leben doof und öde. Grauschwarz. Bis eines morgens Leo vor dem Haus steht. Mit ihm, Alkohol, Zigaretten und Joints wird das Leben anders, lebenswerter. So könnte das ewig weitergehen … Von ANDREA WANNER