Jugendbuch | Daniel Defoe: Robinson Crusoe
Robinson Crusoe gehört sicher zu den bekanntesten Romanfiguren. Von seinem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit vor 298 Jahren bis heute ist seine Attraktivität ungebrochen. Sein erfundener Lebensbericht ist aber auch ein zu schönes Märchen! Von MAGALI HEIẞLER
Man stelle sich vor: Ein Teenager mit Flausen im Kopf möchte in die Welt hinaus. Vom Vater beeindruckend verständnisvoll ermahnt, tut er am Ende doch genau das, wovon junge Menschen gewollt in den glühendsten Farben träumen: Er haut ab.
Natürlich ist die Realität nicht so schön wie seine Träume. Nach mehreren Abenteuern, die unser bald nicht mehr ganz so junger, aber insgesamt wenig gereifter Held um Haaresbreite übersteht, probiert er es mit dem soliden Leben. Er kommt zu Wohlstand, aber nicht schnell genug, weswegen er auf den Gedanken verfällt, in den Sklavenhandel einzusteigen. Höchstpersönlich, versteht sich und so trifft ihn der strafende Blitzschlag des Himmels auch. Urteil: 28 Jahre Haft auf einer abgelegenen Insel, die meiste Zeit davon Einzelhaft. Ja, Märchen können ganz schön grausam sein.
Aber es gibt auch gute Mächte und die haben häufig eine Schwäche für abenteuernde Naturen. Unser Held bekommt daher höchst günstige Voraussetzungen. Die lange Haft wirkt zudem erfreulich auf seine Einsichtsfähigkeit – es handelt sich eben um ein Märchen. Deswegen gibt es am Ende Hafterleichterung mit weiteren Bewährungsangeboten und dann – die Freiheit. Und Reichtum. Bloß die Prinzessin fehlt noch.
Irgendwas ist immer.
Goldene Freiheit
Die Geschichte, die Defoe ersonnen hat, ist geradezu eine Auflistung aller Träume, die brave Menschen träumen, um ihren nicht sehr bunten Alltag aufzuhübschen. Welcher Traum Leserinnen und Leser am meisten ansprechen, hängt von der jeweiligen Epoche ab, in der diese Geschichte gelesen wird.
Heutzutage kann das durchaus der Traum von der unbedingten Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit der Hauptfigur Crusoe sein. Ganz gleich, was ihm widerfährt, er krempelt die Ärmel hoch und setzt sich durch. Er ist ein Erfolgsmensch, der sich stolz den Widrigkeiten des Lebens stellt. Ein Alpha, der nie aufgibt, ein geborener Herrscher noch über das beschränkteste Fleckchen Erde. Sein Ziel ist nicht das reine Überleben, nein, er will alles. Leben, Freiheit, Gold. Das bekommt er. Einem Naturgesetz gleich predigt das seine Geschichte. Das liest sich berückend.
Defoe ist ein raffinierter Erzähler, das übersieht man leicht bei seinem schlichten Stil, dem kurzgehaltenen Vokabular und den eher groben Skizzen seiner Figuren. Damit erreicht er jedoch, dass alles ausgeblendet wird, was nicht im Kosmos seines Crusoe vorkommt. Als Leserin ist man in Robinsons Bericht ebenso eingesperrt wie er auf seiner Insel. Man lebt mit ihm, hört außer den Geräuschen der Natur nur seine Stimme.
Man wird zurückgeworfen auf die Erfüllung der Grundbedürfnisse, hat jedes Verständnis für Robinsons Überlegungen und für sein Tun. Dass Crusoe einen Papagei zähmt, ist eine gleichermaßen geniale wie Angst einflößende Illustration dieser Gegebenheit. So schleicht sich unbemerkt die Vorstellung dazu, dass Herrschen und Reichtum erwerben ebenso rechtmäßig sind wie Essen und Trinken. Schließlich muss man sich gleichermaßen dafür anstrengen.
Defoe verschiebt jedoch die Parameter immer wieder und ändert Prämissen, er erarbeitet bewusst eine Siegergeschichte. Seine Geschichte ist auch sein eigener Traum von Freiheit und großem Reichtum. Gegenwelten, Einwände oder gar Kritik fehlen.
Die Übersetzung
Von Anbeginn wurde Defoes Robinson-Geschichte umgearbeitet, überarbeitet und natürlich auch gekürzt. Gerade wenn das Buch für Jugendliche aufgelegt wurde, neigte man dazu, die Reflexionen der Hauptfigur zugunsten der abenteuerlichen Ereignisse zu kürzen. Das ist eigentlich schade, denn Robinsons Gedanken sind zunächst einmal weniger Teil der Propagierung von Ideologie, sondern gehören zur Charakterisierung der Figur. Crusoe wird deutlich facettenärmer, wenn seine Denkvorgänge fehlen.
Die vorliegende Übersetzung basiert auf früheren Übersetzungen ins Deutsche, ist also keine vollständige Neuübersetzung. Sie ist ebenfalls gekürzt, wenn auch behutsam und die Sprache ebenso behutsam modernisiert. Das sehr sorgfältige Deutsch wird ebenso geschickt eingesetzt wie Defoes Englisch und lässt ebenso wie im Original die Spannung hinter der ruhigen Sprache wachsen, bis sie in den Verzweiflungsanfällen des Protagonisten explodiert, nur um sich dann wieder zurückzuziehen. Es entsteht ein faszinierendes Auf und Ab und wer sich darauf einlässt, Robinson und Friedrich Stephan, dem Übersetzter zuzuhören, wird mit einer Reise in die Möglichkeiten einer unaufgeregten Sprache belohnt, die auf ihre Art so viel Spannung bietet wie die Abenteuer, die sie beschreibt.
Ein kleines Vorwort von Willi Fährmann bezeugt den Einfluss, den das Buch auf Jugendliche nehmen kann.
Die Bleistift-Illustrationen von Hans G. Schellenberger dagegen tun nichts mehr als illustrieren. Sie lockern den Text auf, erlauben Pausen, richten sich aber letztlich an ein ganz junges Publikum, dem sich die eigentlichen Inhalte der Geschichte wiederum entziehen.
Und die Moral?
Davon gibt es reichlich. Ein Gutteil davon fußt entsprechend der Entstehungszeit der Geschichte auf christlichen Auslegungen. Defoe stattet seinen Helden auf der Insel gleich mit drei Bibeln aus, sicher ist sicher. Schuld, Strafe, Sühne und Vergebung spielen eine große Rolle.
Zugleich ist Robinson keiner, der blind glaubt. Er hat durchaus eigene Vorstellungen, und wenn auch Kritik am Recht auf immensen Besitz fehlt, so blitzt doch hin und wieder so etwas wie Selbstkritik auf, gepaart mit einer Prise Humor und einem Fünkchen Ironie. Das verhindert, dass Crusoe ein selbstgefälliger Prediger und unerträglicher Propagandist seiner eigenen großen Taten wird. Viele seiner Schwächen gibt er offen zu, ebenso seine Ängste und Verzweiflungsanfälle. Er ist ein Mensch.
Die Interaktion mit anderen Menschen, Freitag ebenso wie den Meuterern oder einem Spanier, die dann nach und auf die Insel kommen, ist daher nicht ganz selbstverständlich, sondern muss gestaltet werden. Dass auch hierbei die Parameter zugunsten Robinson verschoben werden, ist keine Frage. Trotzdem wird ein gewisser Denkprozess mitgeliefert und es ist gut und wichtig, dass er bei der vorliegenden Übersetzung auch nicht ganz gekürzt oder überhaupt weggefallen ist. Rassistisch und voreingenommen bleibt die Darstellung dennoch, daran lässt sich nichts beschönigen. Insofern ist die Geschichte alles andere als zeitgemäß und sicher nicht tauglich, als schöner unsterblicher Abenteuerroman angepriesen zu werden.
Klassiker lesen? Ja, sicher. Das ist keine Frage für all die, die sich für das Lesen interessieren und Bücher nicht als flüchtiges Konsumgut betrachten. Wer auf die lange Tradition des Geschichtenerzählens einlässt, für diejenigen ist es ein Gewinn, andere Erzählweisen, Ansichten, Vorstellungen, Ausdrucksweisen kennenzulernen, je mehr, desto besser. Fragen sollte man sich allerdings, wer bestimmt, was ein »Klassiker« ist und ob man den Inhalt nicht nur noch strikt epochengebunden verstehen sollte und nicht mit dem Etikett »zeitlos« versehen. Denn das sind sie nicht und gerade ›Robinson Crusoe‹ ist alles andere als eine unschuldige Abenteuergeschichte. Selbst wenn man sie als ein schönes Märchen betrachtet.
Titelangaben
Daniel Defoe: Robinson Crusoe
(1719 The life and strange surprizing adventures of Robinson Crusoe of York, mariner, hrsg. von Friedrich Stephan)
217 S. 8,99 Euro
Würzburg: Arena Verlag 2017
Jugendbuch ab 12 Jahren