Laut UNHCR lag die Zahl der Flüchtlinge Ende 2020 weltweit bei über 26 Millionen, darunter die Hälfte unter 18 Jahren. Insgesamt waren mindestens 82,4 Millionen Menschen gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Wir können es uns nicht vorstellen, was das bedeutet. Die Heimat, liebe Menschen und Dinge, die einem wichtig waren, zurückzulassen. Aufzubrechen ins Ungewisse, wo die grundlegenden Rechte auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung oder Bewegungsfreiheit keine Gültigkeit haben. ANDREA WANNER freut sich über den Mut, darüber in einem Kinderbuch zu erzählen.
Die Fotografin und Menschenrechtsaktivistin Alea Horst, Jahrgang 1982, die 2016 als ehrenamtliche Nothelferin nach Lesbos ging, und Mehrdad Zaeri, Jahrgang 1970, der als 14jähriger mit seiner Familie aus dem Iran nach Deutschland floh und hier als Illustrator und Geschichtenerzähler lebt, haben ein Bilderbuch über die Kinder in den Flüchtlingslagern auf Lesbos gemacht.
Wie beschreibt man Not und Armut, wie erzählt man vom Mangel, von den Erinnerungen an die Flucht und das Schreckliche, was hinter einem liegt? Alea Horst sagt, sie habe viele Flüchtlingslager auf der Welt gesehen, keines sei so schrecklich wie Moria gewesen. Es war für 2.800 Personen konzipiert, zeitweilig lebten dort 20.000 Menschen. Moria gibt es seit dem Brand nicht mehr, die Menschen leben in anderen Lagern. Auch die Kinder. Und von ihnen, den Kindern von Kara Tepe erzählen die Bilder.
Der 8jährige Qutbuddin beschreibt das Zelt, in dem er mit seinen drei Brüdern, seiner Schwester und seinen Eltern lebt: »Im Zelt gibt es keinen Tisch oder Stühle oder Betten. Es ist einfach nur Boden. Mein Papa hat aus Holz eine Ablage gemacht, für die Schuhe draußen. Aber drinnen gibt es keine Möbel. Wir haben nur Decken und Kleidung, aber keine Schränke, wo wir alles einräumen können.« Ernst sieht er aus, der afghanische June im dicken roten Anorak mit einer Mütze auf dem Kopf. Er erzählt von seinen Alpträumen, von der Angst vor dem Regen, der das Zelt kaputtmachen könnte. Und er wünscht sich ein eigenes Zimmer, in dem er auch tagsüber spielen kann.
Amir Hussain ist 10, sein Bruder Amir Hamza 8, auch sie kommen aus Afghanistan. Auf dem Foto hat der große Bruder den Arm um die Schulter des kleineren gelegt, dessen Arm wiederum auf dem Rücken des anderen liegt. Zusammenhalten ist wichtig. Amir Hussain würde gerne einmal warm duschen. Die Duschen im Camp haben nur kaltes Wasser, auch jetzt, im Winter.
Neda, 13, fasst ihre Ankunft vor anderthalb Jahren im Camp so: »Was ich dort sah, hatte ich nicht erwartet. Man kann krank werden, wenn man Moria betritt. Weil es so schrecklich ist und man es nicht erwartet hat. Dabei lächelt Neda freundlich in ihrem grauen Minnie-Maus-Jogginganzug.
Hier kommen die Kinder zu Wort, versuchen das in Worte zu fassen, was ihr Alltag ist, was sie erlebt haben, wie Albträume sie plagen und wie es Träume von einer besseren Zukunft gibt.
Ausgelassen toben sie aus einem aus Seil geknüpften Klettergerät: vergnügte Kinder – zumindest für einen Moment, bei Sonnenschein. Die 14jährige Raghad aus Syrien wurde im Zeltinneren fotografiert. Dort kniet sie auf einem blauen Bodenkissen, der kleine Raum ist liebevoll mit bunten Tüchern dekoriert. Sie verlässt ihn selten, denn das Lager darf sie nicht verlassen. Resigniert schickt sie den deutschen Kindern eine Botschaft: »Lernt, so viel ihr könnt. Ich bin 14 Jahre alt und ich kann keine anderen Sprachen. Ich weiß nichts. Ich war nur ein Jahr in der Schule. Mein Traum für ein gutes Leben ist vorbei, aber ihr könnt eure Träume noch wahr werden lassen.«
Einfühlsam blicken diese Bilder in den Lageralltag der Kinder und zeigen ungeschönt, was dort zu sehen ist. Viel zu lange schon hat die europäische Flüchtlingspolitik das Problem ignoriert, sich vermeintlich die Probleme vom Hals geschafft durch Lager an den europäischen Außengrenzen. Aus Flüchtlingen werden hier Menschen, werden Kinder mit Schicksalen, die ein anderes Leben verdient haben, als das, das sie leben. Die kleinen Vignetten von Mehrdad Zaeri fassen ihre Wünsche in Bilder, die mit wenigen Strichen Ersehntes auf den Punkt bringen.
Kann man so ein Buch Kindern hierzulande zumuten? Kann man Kindern auf Lesbos so ein Leben zumuten? Wenn sich etwas ändern soll – und es muss sich etwas ändern – müssen wir anders mit den Phänomenen Flucht und Vertreibung umgehen, brauchen wir eine andere Haltung gegenüber allen Geflüchteten. »Europas vergessene Kinder« lautet der Untertitel dieses Buches, das Respekt und Mitgefühl zeigt. Und das man gemeinsam mit allen Kindern, die das Glück haben, hier in Frieden und Wohlstand groß werden zu dürfen, anschauen sollte.
Titelangaben
Alea Horst: Manchmal male ich ein Haus für uns
Europas vergessene Kinder
Mit Vignetten von Mehrdad Zaeri
Leipzig: Klett Kinderbuch 2022
80 Seiten, 16 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren
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