Schwäche hat einen Sinn

Roman | Mieko Kawakami: Heaven

Der erste Satz liest sich noch recht unverfänglich: »Eines Tages Ende April steckte zwischen den Bleistiften in meinem Federmäppchen ein mehrfach gefaltetes Stück Papier.«  Doch dann zieht uns die 45-jährige japanische Schriftstellerin Mieko Kawakami, die mit ihrem Roman Brüste und Eier (dt. 2020) einen internationalen Bestseller gelandet hatte, sogartig in diesen Roman hinein. Von PETER MOHR

»Wir gehören zur selben Sorte«, steht in Druckbuchstaben auf dem Zettel, den der namenlose 14-jährige Ich-Erzähler zunächst wie eine Botschaft aus einer fremden Welt aufnimmt. Da ist also noch jemand, der ähnlich fühlt wie er, der möglicherweise genauso leidet wie er, wahrscheinlich auch ein Einzelgänger, ein verspotteter Außenseiter.

In Kawakamis Roman geht es um handfestes Mobbing unter Teenagern. Der Protagonist und das Mädchen Kojima sind die auserkorenen Opfer. Die Omnipräsenz der Angst im Alltag verbindet sie lose. Sie werden von ihren Mitschülern drangsaliert, bekommen einen aufgeschnittenen Volleyball über den Kopf gestülpt, müssen Kreide essen, werden in den Spind gesperrt oder genötigt, endlose Runden um den Sportplatz zu rennen. Die Grenzen zwischen jugendlichem Streich und psychischer Folter verschwimmen hier.

Der Ich-Erzähler schielt, das Mädchen wird wegen seines ungepflegten Auftretens gemobbt. Kojima, die sich aus Solidarität mit ihrem Vater, von dem sich die Mutter getrennt hatte, nicht mehr wäscht und stets mit derselben ungebügelten Bluse zur Schule kommt, wird auch verbal hart angegangen: »Du stinkst!«

»Kojima war klein, hatte einen etwas dunkleren Teint und war eine sehr stille Schülerin. Ihre Schuluniform war abgetragen, die Bluse nie gebügelt, und sie sah immer so aus, als hätte sie Schlagseite«, heißt es über das Mädchen, das sich – anders als der Ich-Erzähler – als Rebellin und Kämpferin entpuppt. Während der Junge beinahe stoisch die Schikanen über sich ergehen lässt, gefällt sich Kojima in ihrer Außenseiterrolle als eine Art Widerstandskämpferin.

Die beiden jugendlichen Verbündeten konstruieren sich eine Art Refugium in einer Welt voller Feindseligkeiten, tauschen sich aus, sprechen und denken dabei aber wie Erwachsene über die ihnen widerfahrenen Peinigungen. Sie wirken für ihr Alter über-intellektualisiert – vor allem Kojima verwandelt sich mit Fortschreiten der Handlung immer stärker in eine Heiligenfigur, in eine asketische Märtyrerin mit leicht missionarischem Touch: »Wir sind vielleicht schwach, aber unsere Schwäche hat einen Sinn. Wir wissen, was wichtig und was nicht richtig ist.« Ihr Gegenüber ist eher wankelmütig, der Junge möchte am liebsten „dazu gehören“ und zieht sogar einen medizinischen Eingriff in Erwägung, um seinen Makel zu eliminieren. Hat sein Schielen gar metaphorischen Charakter? Steht es für den verzerrten Blick eines Außenseiters?

Kojima sieht in dem Wunsch nach Anpassung an die gesellschaftlichen Normen eine Form des Verrats. Sie definiert ihr Erscheinungsbild als Akt des Protestes gegen die Gesellschaft und als Zeichen der Solidarität mit ihrem in Armut lebenden Vater. Ihren sowohl materiellen wie emotionalen Minimalismus erhebt sie für sich zu einer Art Lebensphilosophie. Für ein 14-jähriges Mädchen wirkt dies ziemlich dick aufgetragen und nicht alterskonform.

Mieko Kawakami tastet in ihrem Roman die Angstzonen in der Psyche der beiden Pubertierenden ab.  In einer nüchtern-sachlichen, beinahe lakonischen Sprache begleitet die Autorin die beiden Außenseiter – macht uns mit Gewalt, verletzten Gefühlen und Einsamkeit vertraut, zeigt aber auch, wie unterschiedlich die beiden Figuren mit den Peinigungen umgehen. Dass die Kojima-Figur am Ende theatralische Züge gewinnt und bühnentaugliche Monologe hält (»Die Schwachen werden weiter gequält. Die Starken verschwinden ja nicht einfach. Sollen wir ihnen deswegen nacheifern? Uns mit ihnen gemein machen? Und so unsere Schwäche überwinden? … Nein! Es ist eine Prüfung. Begreifst du das nicht?«), stört das Gesamtbild dieses thematisch so reizvollen und berührenden Romans doch ein wenig.
Der Junge wird zum Schluss »schwach«, und so kommt es noch zu einem bildhaft starken Ende. Er lässt sich am Auge operieren und befindet danach staunend: »Das Bild übertraf meine kühnsten Vorstellungen.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Mieko Kawakami: Heaven
Aus dem Japanischen von Katja Busson
Köln: Dumont Verlag Köln 2022
190 Seiten. 22 Euro
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