/

»Ich will sterben« – Der mediale Werther


Bühne | Goethes ›Die Leiden des jungen Werthers‹ im Badischen Staatstheater Karlsruhe

Werther (Seit 2012/13 im Ensemble und souverän im jugendlichen Elan: Michel Brandt) liebt und leidet − unglücklich mit dem Gefühl für die Frau eines anderen Mannes im Herzen. Von JENNIFER WARZECHA

Unglücklich, wenn auch zeitweise erleichtert und erheitert durch die spontane Ansprache ans Publikum durch Alberts (Souverän und überzeugend: Jan Andreesen) direkte Ansprachen ans Publikum mit der Frage nach der Liebe, bleibt das zumeist aus Schülern bestehende Publikum im bis auf den letzten Platz besetzten Stuhl des Studios im Badischen Staatstheater Karlsruhe zurück.

Lotte (im Wechsel zwischen unnahbar und authentisch gefühlvoll: Veronika Bachfischer) ist die, um die sich das ganze Stück dreht und nach deren Erscheinen der literarischen Vorlage und eines der Hauptwerke des Sturm und Drang von Johann Wolfgang von Goethes ›Die Leiden des jungen Werthers‹ im Jahr 1774 sich einst viele junge Menschen, gekleidet in der charakteristischen »Werther-Kluft« aus blauem Frack und gelber Weste, wie sie auch Brandt im Stück beide trägt, das Leben nahmen.

Der Werther des 18. Jahrhunderts in unserer Zeit

Die Leiden des jungen Werthers Karlsruhe Foto GruenschlossAus diesem, einem der Hauptwerke des Sturms und Drang, ging der psychologische Werther-Effekt hervor. Ihn kennzeichnet auch im Stück die sich sehnende, geradezu mörderische Liebe nach dem weiblichen Gegenüber, hier in Form von Lotte. Werther steht im Stück zwischen Lotte und Albert. In verschiedenen Szenen zerreißt es ihn geradezu vor Sehnsucht, zum Beispiel dann, als Lotte und Albert tatsächlich heiraten.

Lotte sitzt, wie häufig im Stück, links von der Bühne am Klavier und spielt zu leisen, melodischen Klängen. Albert tritt an sie heran, legt den Arm auf ihre Schulter und umhüllt ihre Haare mit einem weißen, dem Hochzeitsschleier. Bereits kurz danach ist ihr Bild als Videoprojektion in dem labyrinthischen Spiegelkabinett auf der Bühne zu sehen.

Werther stellt sich in die Mitte und schreit, aus Seelenpein, unterstrichen durch Textauszüge aus dem Briefroman, sich Leid und Unverständnis quasi förmlich aus der Brust heraus. Regisseur Gernot Grünewald versetzt durch die neuen medialen Formen wie die Videoprojektionen von Bildern und Text bzw. die Kombination aus Text und Stimmen aus dem Off, untermalt von sanften Klavierklängen, den Werther des 18. Jahrhunderts hinein in unsere Zeit.

Wieviel Moderne trägt das Stück?

Die Leiden des jungen Werthers Karlsruhe Foto GruenschlossEtwas seltsam mutet diese Kombination da an, wo alle drei vor den Projektionswänden, mit erhobenem Kinn, stehen und insgesamt die Handlung, nebst Einspielungen von Zitaten, nur über die Textprojektionen abläuft. Möglicherweise möchte man damit dem Zuschauer den unerfreulichen Anblick des Dahinsiechens und langsamen Sterbens Werthers ersparen. Geradezu erschütternd wirkt dennoch die immer wiederkehrende Stimme Werthers aus dem Off mit dem Ruf »Ich will sterben«, bei dem die Protagonisten alle Gegenstände auf der Bühne hin und her räumen. Markant wirkt außerdem der Schluss, als Albert links vom Bühnenrand stehend, haarklein berichtet, wie Werther stirbt und verendet, nachdem er sich schon aufgrund der unerwiderten Liebe Lottes erschossen hat. Auf der Bühne gießt Brandt Kunstblut über sich aus. Andreesen erzählt, wie sein Gehirn förmlich herausquillt, der Puls schlägt und »die Lunge röchelt.«

Er stirbt um 12 Uhr mittags und Brandt alias Werther schreitet geradezu hoch erhobenen Hauptes von der Bühne. Immer wieder werden Videosequenzen mit Karlsruher Schülern des Bismarck-Gymnasiums eingespielt, die danach gefragt werden, ob sie an die eine große Liebe glauben bzw. Werthers Reaktionen für verrückt erklären. Teils sprechen sie von mangelnder Erfahrung im Umgang von Liebesdingen, teils sehen sie einen Partner als den für sie einzig Richtigen an. Manch eine/r versteht Werther, manch eine/r hält ihn für verrückt.
Insgesamt rührt das Stück an, macht aber die ein oder andere Videoprojektion, im Sinne von geradezu künstlich inszeniert, überflüssig. Sehenswert.

| JENNIFER WARZECHA
| FOTOS: FELIX GRÜNSCHLOSS

Titelangaben
Die Leiden des jungen Werther
Nach dem Roman von Johann Wolfgang Goethe
Am Badischen Staatstheater Karlsruhe
REGIE: Gernot Grünewald
BÜHNE & KOSTÜME: Michael Köpke
VIDEO: Jonas Plümke
MUSIK: Tobias von Tann
DRAMATURGIE: Tobias Schuster, Konstantin Küspert, Jakob Schumann

Termine
Donnerstag, 10.11., 20:00
Donnerstag, 24.11., 20:00
Freitag, 02.12., 20:00

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Überladen heiter

Nächster Artikel

Eine Art Rage

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Auf die Freundschaft und die moderne Frau

Bühne | M. Delaportes, A. de la Patelliére: Das Abschiedsdinner Pierre (charakterstark und überzeugend: Bernhard Meindl) und Clotilde (feminin und fulminant: Sophie Lochmann) sind ein ganz normales, modernes Paar. Eines, bei dem Clotilde die Hosen anhat … Von JENNIFER WARZECHA

»Das willst du nicht wissen«

Bühne | Joe Sutton: ›Komplize‹ im Hamburger Theater das Zimmer Die Wahrheit ist ein gefährliches Gut – das muss auch Journalist Ben erkennen, als er geheime US-Regierungsmethoden aufdeckt und angeklagt wird. Die Preisgabe seiner Quelle kann ihn und seine Familie retten, doch der Preis ist hoch. Von MONA KAMPE

Scharfe Lichter auf Novemberliches

Oper | Claude Debussys Pelléas et Mélisande an der Oper Frankfurt Neuinszenierungen des Meisterwerks Pelléas et Melisande waren in Claude Debussys Jubiläumsjahr (man feiert 2012 seinen 150. Geburtstag) zwar nicht selten, aber die novemberliche in Frankfurt am Main dürfte zu den spannendsten gehören. Von HANS-KLAUS JUNGHEINRICH

Eine musikalische Wanderung zwischen Imagination und Realität

Bühne | Im Theater: Rusalka im Theater Pforzheim Es gibt Themen und Motive, die gleichsam Fiktion und Realität begleiten. Die Liebe ist so ein Motiv, das die Nixe Rusalka (Banu Böke) sogar die Grenze zwischen Mensch und Natur überschreiten lässt. Auch die Frage von Identität und Unerreichbarkeit ist Thema des lyrischen Märchens in drei Akten von Antonín Dvořák, basierend auf dem Libretto von Jaroslav Kvapil. Von JENNIFER WARZECHA

Kapitalismus, Theater und Kritik

Bühne | Kulturbuch | Joachim Fiebach: Welt – Theater – Geschichte. Eine Kulturgeschichte des Theatralen Er gilt als Gigant unter den zeitgenössischen Theaterwissenschaftlern, ein Gigant, der scheinbar spielerisch Theater, Medien, Herrschaft, Philosophie und Kultur als Ganzes prägnant, pointiert und manchmal auch provokativ kontextualisiert sowie en passant sich auch noch als der Experte für das Theater Afrikas gerierte: der Berliner Professor Joachim Fiebach. Schon in zahlreichen Monografien und Artikeln hat er sich mit den sozialen und politischen Faktoren des Theaters beschäftigt und dabei aphoristisch über die dramaturgische Inszenierung der Realität laboriert. Jetzt hat Fiebach sein wissenschaftliches Opus Magnum vorgelegt, mit dem