Zwischen Hoffen und Bangen

Menschen | Urs Faes: Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch

»Wer war er geworden? Einer, der sich zusah, wie er sich ängstlich durch die Straßen bewegte, langsam, als suche er etwas, das ihm abhandengekommen war?« Die Leichtigkeit des Alltags ist Urs Faes durch eine Krebserkrankung abhandengekommen. Zum 70. Geburtstag des Schriftstellers Urs Faes erschien ein bewegendes Fahrtenbuch. Von PETER MOHR

Urs Faes - Halt auf Verlangen›Halt auf Verlangen‹ gewährt der Schweizer Autor tiefe Einblicke in das Seelenleben eines Krebspatienten. Bewegend, erschütternd, aber nie selbstbemitleidend – vielleicht dem Umstand geschuldet, dass Faes die Distanz der dritten Person für seine Erzählung wählte.
 
»Vor sieben Uhr dämmerte das Institut vor sich hin; die ersten Patientengespräche und die ersten Bestrahlungen waren auf halb acht angesetzt.« Kein Satz aus dem neuen Buch, sondern aus dem 2010 erschienenen Roman ›Paarbildung‹, in dem sich Faes schon einmal mit dem Thema Krebs auseinandersetzte. Damals begegnete der Therapeut Andreas auf der onkologischen Station nach vielen Jahren seiner Jugendfreundin Meret als Patientin. Die Gespräche changierten in ihrer Stimmungslage zwischen schmerzhafter Selbstzerfleischung und seelentröstender Therapie. Als Leser wandelte man auf einem schmalen Grat – zwischen Leben und Tod, Zuversicht und Angst, zwischen verpassten Lebenschancen und winzigen Hoffnungsschimmern. Und am Ende war man emotional so desorientiert, dass man nicht einmal wusste, ob man an der Seite von Andreas und Meret Mitleid, Wut, Verbitterung oder Enttäuschung fühlte. Diese Gefühlsturbulenzen, denen wir uns auch im neuen Buch ausgesetzt sehen, sind Urs Faes’ meisterlicher Sprache geschuldet.

In ›Halt auf Verlangen‹ will der Autor das Unsagbare ausdrücken, mit sich selbst ins Reine kommen, auf physisch wie psychisch aufreibende Art und Weise. Der Protagonist (ob er streng autobiografisch ist und wie viel Fiktion in ihm steckt, weiß nur Urs Faes selbst) sucht den Dennoch-Pfad, einen steinigen Weg, von dem man nicht einmal weiß, ob er ans Ziel führt. Den Tod vor Augen bilanziert er alles, legt das fein sezierte Leben auf die Waage. Und im besten Fall, ist man mit sich selbst einig, dass es sich zu leben lohnte und dass man nicht allzu viel versäumte. Biografische Leerstellen werden mit Fantasie aufgefüllt, Möglichkeiten gehen durch den Kopf, Träume und Sehnsüchte, aber auch verpasste Chancen – in etwa so, wie es Paul Auster in seinem Monumentalepos ›4321‹ schrieb, als er uns ein Leben in vier Variationen präsentierte.

Wie geht man mit Krebs um, wie verhält man sich zu den engsten Vertrauten? Wird man argwöhnisch, vermutet man gar Unehrlichkeit bei den Anderen? Fragen, die unter die Haut gehen, bei der Lektüre eine Gänsehaut auslösen, und auf die es keine allgemeingültigen Antworten gibt. Diese Krankheit nagt nachhaltig an der Seele, verändert einen Menschen radikal.

Urs Faes, der am 13. Februar 1947 in Aarau geboren wurde, absolvierte in jungen Jahren eine Lehrerausbildung und promovierte später in Ethnologie. In den 1970er Jahren hatte er mit zwei Lyrikbänden debütiert, räumte aber später ein: »Mein Temperament ist schon ein episches. Ich mag den Erzählkosmos und die Gegenwelt, die durch die Arbeit an einem Roman entsteht. Diese Gegenwelt, deren Erstellung und Einrichtung auch etwas sehr Spielerisches hat.«

Der literarische Durchbruch gelang dem einst passionierten Pfeifenraucher 1989 mit dem Roman ›Sommerwende‹ – das erste im Suhrkamp Verlag, dem er bis heute die Treue gehalten hat, erschienene Werk. Es folgten u.a. die Romane ›Alphabet des Abschieds‹ (1991), ›Und Ruth‹ (2001), ›Als hätte die Stille Türen‹ (2005) und ›Sommer in Brandenburg‹ (2014).

Faes lebt abwechselnd in Zürich und San Feliciano in Umbrien (»Ich schätze die Spontaneität der dort lebenden Menschen und das Licht«). Seiner Wahlheimat hat er schon vor 20 Jahren in seinem eindrucksvollen Künstlerroman ›Ombra‹ eine literarische Liebeserklärung gewidmet. Und darin steht ein Satz, der Urs Faes’ künstlerisches Schaffen perfekt auf den Punkt bringt: »Nicht, was wir sehen, bewegt uns, sondern das, was in unserer Phantasie sich entwickelt.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Urs Faes: Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017
199 Seiten, 20 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gefühlsstürme im Zeitalter des WWW

Nächster Artikel

Sind wir nicht alle ein bisschen Jandl?

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Melancholic Melodies And Organic Grooves: An Interview With Chic Miniature

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world As a lover of electronic music it can get a bit overwhelming trying to keep up with the number of new releases coming out each week. For every Compro or Skylax House Explosion there are numerous functional house and techno records which are simply content to exist. This is why albums such as Ficción Futuro by Chic Miniature can seem like such a godsend. Formed of eight pieces of dance floor delight, the record manages to do a very rare thing these days, in that it works

Turbulence As A State Of Mind

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world An influential figure in the rise of acid house, Justin Robertson is a musician who always pushes boundaries. In doing so he can be relied upon to create music which constantly catches you by surprise. Justin Robertson’s Deadstock 33s is a relatively new alias which sees the British producer create a body of work full of twists, turns, and mesmerising grooves. By JOHN BITTLES

Der Spion aus der Kälte

Menschen | Zum Tod von John le Carré

»Dank meinem Vater, einem Hochstapler und Betrüger, war ich schon in meiner Kindheit mit dem verführerischen Charme der kriminellen Welt vertraut und genötigt, mir für mein Leben ein moralisches Konzept zurecht zu schnitzen«, bekannte David John Moore Cornwell 2011 in einem Interview mit der ›Neuen Zürcher Zeitung‹. Von PETER MOHR

In Search Of Valor: An Interview With Dinky

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world No one could ever accuse house icon Dinky of being a one trick pony! Over a long and varied career her musical output and DJ sets have incorporated deep techno, hazy ambiance, hedonistic acid, classic house, alternative pop, and much more. Her latest single Casa (released earlier this year) was a spell-bindingly deep slice of Chicago-inspired house that is already sitting pretty as one of the songs of the year. In contrast, the album Dimension D saw Dinky embrace her inner singer-songwriter, while the warmth she managed

Nicht mit dir und nicht ohne dich

Kulturbuch | Helmut Böttiger: Wir sagen uns Dunkles   Um ihr Leben ranken sich zahlreiche Mythen und Legenden: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Wie nahe Anziehung und Abstoßung, Verletzungen und Verzeihen beieinanderliegen, auch wenn sich die Unmöglichkeit der Nähe abzeichnet, zeigt Helmut Böttiger in seinem facettenreichen Doppelporträt ›Wir sagen uns Dunkles‹. Von INGEBORG JAISER