Who you’re gonna be, Archie?

Roman | Paul Auster: 4 3 2 1

»Nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte«. Ein Junge – vier Leben. Alles ist möglich. Begeben Sie sich gemeinsam mit Archie Ferguson und MONA KAMPE in ein faszinierendes Gedankenspiel.

Paul Auster_4 3 2 1Mal ehrlich: Fragen Sie sich nicht auch manchmal: Was wäre, wenn …? Was wäre passiert, wenn ich links abgebogen wäre statt rechts? Was, wenn ich die einmalige Chance nicht wahrgenommen hätte oder nicht dem Menschen begegnet wäre, der mein Leben für immer verändert hat? Wäre ich überhaupt noch hier? Im Leben dreht sich alles um Schicksal, individuelle Entscheidungen und die ewige What-if-Frage. Oder etwa nicht? Was wäre denn, wenn nicht?

»Was für ein interessanter Gedanke«, sagt sich der kleine Junge, »sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. Ja, alles war möglich, und nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte«. Sein Name ist Archibald Ferguson. Benannt nach seinem jüdischen Großvater, der 1900 nach New York immigrierte. Und weil dieser den uramerikanischen Namen vergaß, den er sich bei der Einreise geben wollte, vermerkte der Beamte nur Ichabod Ferguson auf den Jiddisch genuschelten Kommentar des Neuankömmlings: »Ich hob vergessen«.

Archie lebt mit seinen Eltern Rose und Stanley im New Yorker Vorort Newark. Seine Kindheit verläuft harmonisch – mit einer überaus liebenden Mutter und einem hart arbeitenden Vater, bis ein Zwischenfall in dessen Firma den Lauf der Geschichte verändert. Und das gleich viermal. Denn was wäre, wenn sein Vater den Brand nicht überlebt hätte? Was wäre, wenn er seinen Bruder zur Verantwortung gezogen und ins Gefängnis geschickt oder das Ganze als Unfall deklariert und die Versicherungssumme kassiert hätte? Ein Schicksalsschlag und eine väterliche Entscheidung führen in allen vier Leben des Archibald Ferguson zu einer entscheidenden Wendung.

Vier Lebensentwürfe, die den Protagonisten in ganz unterschiedliche Welten und Stadtteile führen, ihn vor verschiedene Entscheidungen und Herausforderungen stellen, antithetische Vorlieben und Leidenschaften entwickeln lassen. Archibald Ferguson – ein amerikanischer Junge mit jüdischen Wurzeln, dessen Kindheit und Jugendzeit im Amerika der 1950er und 1960er Jahre ihn stets mit den gleichen Menschen zusammenführt, doch er und sie werden niemals dieselben sein. Nichts ist gewiss, außer der Großvaterlegende und, dass er seine Mutter und Amy Schneiderman immer auf die eine oder andere Weise lieben wird. Doch was wäre eigentlich, wenn Archie selbst nicht überleben würde?

Was wäre wenn? Gedankenepos um das ewige Rätsel des Zusammenspiels zwischen Lebenssinn und Schicksal

»Ich habe mein ganzes Leben gewartet, dieses Buch zu schreiben«, verriet der New Yorker Autor Paul Auster über sein am 3. Februar 2017 in deutscher Übersetzung erschienenen Großroman 4 3 2 1. Er bezeichnete ihn als sein wichtigstes Werk. Das Gedankenepos ist mit seinen 1259 Seiten dreimal so lang wie seine bekannten Frühromane die ›New-York-Trilogie‹ und ›Mond über Manhatten‹, aber auch er greift das für Auster typische Wechselspiel mit Blickwinkeln und Perspektiven auf. So steht der Leser selbst vor der großen Herausforderung, Archies vier Leben gedanklich in Einklang zu bringen, erneut zu separieren oder sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, was ihm in dieser Geschichte bereits widerfahren ist. Ob bescheidener Provinzler, betroffener Historiker, künstlerisches Genie oder Nach-den-Sternen-Greifer –der Rezipient wird in allen Versionen Teil von Archibald Fergusons Träumen, seinen Kämpfen und Beziehungen. Er wird den naiven Jungen auf seinen abenteuerlichen Entdeckungsreisen ins Erwachsenenalter lieb gewinnen, mit ihm fiebern, weinen und lachen. Er kann gar nicht anders, als sich dem auf den ersten Blick endlos erscheinenden Gedankenexperiment um das ewige Rätsel des Zusammenspiels zwischen Lebenssinn und Schicksal hinzugeben und wird am Ende selbst vor der Frage zu stehen: Was wäre, wenn …?

Neben autobiografischen Bezügen – denn der Schriftsteller ist selbst als amerikanischer Jude in den 1950er Jahren in Newark aufgewachsen – spiegeln sich in dem Roman zahlreiche historische Ereignisse zwischen 1950 und 1970 wider: Hiroshima, der Vietnamkrieg, die Kennedy-Ermordung und die nationalen Rassenkonflikte, die den Protagonisten und sein Umfeld nachhaltig beschäftigen.

Auster gelingt mit seinem jüngsten Werk ein authentisches Gedankenepos, das alle existenziellen Fragen des Seins stellt und seinen Leser dort abholt, wo es ihn am meisten berührt – politisch, sozial, persönlich. Der Autor änderte den ursprünglich geplanten Buchtitel ›Ferguson in 4 3 2 1‹, da der afroamerikanische Schüler Michael Brown am 9. August 2014 in Ferguson, Missouri erschossen wurde und dieser Name laut ihm in die amerikanische Geschichte eingehen wird.

Eins ist sicher, Herr Auster: Archie Fergusons Leben auch.

| MONA KAMPE

Titelangaben
Paul Auster: 4 3 2 1
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH 2017
1.259 Seiten, 29,95 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

erinnerung in high definition

Nächster Artikel

Auf der Suche

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Asche in zwei Urnen

Roman | Urs Faes: Untertags

»Ein Kuvert enthielt alles, was er verfügte. Was sie schmerzte. Was sie hinnahm und nicht begreifen konnte«, heißt es im bewegenden Roman des Schweizer Autors Urs Faes. Die Apothekerin Herta sichtet den Nachlass ihres verstorbenen, langjährigen Lebensgefährten Jakob, den sie in einem schleichenden Prozess verloren hat. Die Demenz hat ihn auf für Herta äußerst schmerzhafte Weise peu à peu aus dem Alltag verschwinden lassen. Von PETER MOHR

Im Abseits lebt es sich gefährlich

Roman | Mick Herron: Slough House

Zum siebenten Mal lässt Mick Herron seine Leserinnen und Leser hinter die Fassaden von Slough House blicken. Dort übt man sich unter der Leitung von Jackson Lamb, dem nichts wirklich unangenehm zu sein scheint, in der Kunst des Als-ob. Als ob man noch dazugehörte. Als ob die britischen Geheimdienste ohne die Slow Horses verloren wären. Als ob man nicht jeder Herausforderung freudig entgegensähe. Denn nichts kann trister sein als ein Leben im geheimdienstlichen Abseits. Aber ist das wirklich so? Stellt nicht die kleine Truppe, die in einem heruntergekommenen vierstöckigen Gebäude an der Aldersgate Street im Londoner Stadtteil Finsbury mehr vegetiert denn residiert, jenen patriotischen Glutkern dar, an dem sich jeder Angreifer des Königreichs letztendlich die Finger verbrennt? Von DIETMAR JACOBSEN

Die Wut der Väter, die Melancholie der Mütter

Roman | Martin Becker: Die Arbeiter

Die Arbeiter rackern sich »den Arsch aus der Hose«, hoffen auf zehn Richtige im Lotto und kämpfen sich bis dahin mit reichlich Schnaps, Zigaretten und allzu fettem Essen durch die Mühsal der Tage. Mit seinem neuen Roman errichtet Martin Becker ein literarisches Denkmal für ein aussterbendes Milieu, eine scheinbar verschwundene Klasse, ungeschönt und ohne falsche Melancholie. Von INGEBORG JAISER

Vom Blitz getroffen

Roman | Ulrike Sterblich: Drifter

Wer ein Faible für schräge Figuren, für fantastische Handlungssequenzen und gedankliche Volten hat und sich überdies eine Prise jugendlichen Eigensinn bewahrt hat, der kommt im neuen Roman der 53-jährigen Berliner Schriftstellerin Ulrike Sterblich voll auf seine Kosten. Die studierte Politologin hatte zuletzt 2021 den Roman The German Girl veröffentlicht. Von PETER MOHR

Jeden Abend ruft Hegel an

Roman | Martin Walser: Spätwerk Martin Walsers Energie ist bewundernswert. Mit nun fast 92 Jahren legt er das zweite Buch binnen eines Jahres vor – mit dem Titel ›Spätdienst‹. Wieder keine lineare Erzählung mit konventioneller Handlung, sondern ein assoziatives, ausschweifendes Gedankenkonvulut mit lyrischen und aphoristischen Sentenzen. Mal bissig, mal melancholisch, mal profund, mal kitschig. Genau so, wie in seinen beiden letzten Büchern ›Gar alles‹ (2018) und ›Der letzte Rank‹ (2017). Von PETER MOHR