Roman | Juli Zeh: Neujahr
Die karge Vulkaninsel Lanzarote ist wieder einmal Schauplatz von Juli Zehs neuestem Roman. Hier verbringt ein gestresster deutscher Familienvater und Lektor den Jahreswechsel, kann sich allerdings kaum von Erfolgsdruck und Optimierungszwang erholen. Doch ein folgenreiches Déjà-Vu erklärt seine Angstattacken und Erschöpfungssymptome. Neujahr entpuppt sich zugleich als dramatische Reise zurück zu schrecklichen Kindheitsereignissen. Von INGEBORG JAISER
Kanaren-Liebhaber werden diese Gegend kennen und schätzen: das beschauliche Bergdorf Femés liegt im Süden der Insel Lanzarote, auf einem Bergsattel des Atalaya-Vulkans. Von der Küste aus ist es über eine erst langsam ansteigende, dann sehr steil werdende, in zwei langen Serpentinen gekrümmte Straße zu erreichen.
Der malerische Ort erstrahlt im perfekten Dreiklang: Lavaschwarz, Gleißendweiß, Azurblau. Ein beliebtes Ausflugsziel mit einem wunderschönen Ausblick bis hinab nach Playa Blanca.
Erster-Erster
Hier oben hat auch Juli Zeh ihren jüngsten Roman Neujahr angesiedelt. Doch erst einmal muss sich der unglückliche Protagonist Henning, Urlauber aus Göttingen, Verlagslektor in Teilzeit und Vater zweier Kindergartenkinder, mühsam mit dem Fahrrad durch mehrere Hindernisse hochkämpfen: das Leihrad zu schwer und unhandlich, das Outfit zu unsportlich, die Steigung zu heftig, Wasser und Proviant Fehlanzeige. Mit jeder Muskelanspannung, mit jedem Pedaltritt reflektiert Henning seine derzeitige Lebenssituation. Das letzte Jahr hat es nicht gut mit ihm gemeint. Er fühlt sich permanent gestresst und glaubt, keiner sehr Rollen gerecht zu werden.
»Sein Leben gleicht einer Flucht, er kann nichts zu Ende bringen, hat für nichts richtig Zeit.« Nicht einmal im Beruf. »Immer hinkt er hinterher. Zu viele Mails in der Inbox, zu viele Manuskripte auf dem Schreibtisch. Zu viele Konferenzen mit dem Verleger […] Nach dem Urlaub wird es besonders schlimm werden. Den Rückstand von zwei weiteren Wochen holt er niemals auf.« Und als Vater glaubt er sowieso, versagt zu haben. Immer verlangen Jonas und Bibbi nach ihrer Mutter Theresa, nur selten nach ihm.
Wenn ES nur endlich Ruhe gäbe. Ist es ein Burn-out, sind es Belastungsstörungen, Stresssyndrome oder eine Erschöpfungsdepression? Schier unmenschliche Angstzustände rauben ihm die Luft zum Atmen, machen ein normales Leben fast unmöglich. Doch nun, am ersten Tag des neuen Jahres, steht diese Radtour nach Femés stellvertretend für alle guten Vorsätze. „Er will Theresa öfter in den Arm nehmen, weniger genervt von den Kindern sein, öfter mal losziehen und Freunde treffen. Das kann doch nicht so schwer sein. Jedenfalls nicht schwerer als zwanzig Prozent Steigung bei Gegenwind auf einem geliehenen Rad.“
Während sich Henning mit letzter Kraft bis zum Bergkamm hocharbeitet, suchen ihn mehrfach üble Sinnestäuschungen und Trugbilder heim. Lassen ihn Unterzuckerung und Schwäche bereits fantasieren? Oder ist es möglich, dass er diese Gegend kennt, schon einmal hier war?
Flashbacks, Visionen, Erinnerungen
Sprünge zwischen Zeitebenen und Wahrnehmungen rütteln alte, seit Jahrzehnten verschüttete Erinnerungen wach. Plötzlich ist Henning wieder der kleine fünfjährige Junge, der mit seinen Späthippie-Eltern und der kleinen Schwester Luna die Ferien in einem entlegenen kanarischen Bergdorf verbringt. In schmerzhaften Flashbacks tauchen die höchst traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit auf, glasklar und sehr real, werden noch einmal in qualvoller Intensität durchlebt.
Doch zugleich liegt in Hennings Erinnerungen der endgültige Befreiungsschlag von allen ungeklärten Angstzuständen. »Dreißig Jahre hat er auf einem unterirdischen Speicher gelebt, auf einer Höhle, verzweifelt bemüht, das Loch nicht zu sehen, durch das man hineinfallen kann.« Nun ist der Knoten geplatzt. ES ist bezwungen.
Neujahr entwickelt eine unglaubliche Sogwirkung, mit geradezu körperlich spürbarer Anziehungskraft. Während die Kritik Juli Zehs bereits 2012 erschienenem Lanzarote-Roman Nullzeit zu viel abgedrehte Unglaubwürdigkeit attestiert hat, greifen nun die Erzählebenen stimmig in einander, ist die existentielle Not zweier kleiner Kinder fast greifbar nahe. Man kann diesen überaus spannenden Roman in wenigen Stunden lesen, vielleicht in der gleichen Zeitspanne, die Henning für das mühevolle Hochkämpfen nach Femés und die rasante Abfahrt benötigt. Doch der Nachhall wird noch lange andauern – und mit ihm die Frage, »ob die Wirklichkeit mehr ist als die Summe aller Geschichten, die sich die Menschen andauernd selbst erzählen.«
Titelangaben
Juli Zeh: Neujahr
München: Luchterhand 2018
190 Seiten. 20,00 Euro
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