Zum siebenten Mal lässt Mick Herron seine Leserinnen und Leser hinter die Fassaden von Slough House blicken. Dort übt man sich unter der Leitung von Jackson Lamb, dem nichts wirklich unangenehm zu sein scheint, in der Kunst des Als-ob. Als ob man noch dazugehörte. Als ob die britischen Geheimdienste ohne die Slow Horses verloren wären. Als ob man nicht jeder Herausforderung freudig entgegensähe. Denn nichts kann trister sein als ein Leben im geheimdienstlichen Abseits. Aber ist das wirklich so? Stellt nicht die kleine Truppe, die in einem heruntergekommenen vierstöckigen Gebäude an der Aldersgate Street im Londoner Stadtteil Finsbury mehr vegetiert denn residiert, jenen patriotischen Glutkern dar, an dem sich jeder Angreifer des Königreichs letztendlich die Finger verbrennt? Von DIETMAR JACOBSEN
Es ist immer wieder großartig, wie Mick Herron seine kleine Truppe von MI 5-Versagern, die man von der Geheimdienstzentrale am Regent’s Park abgeschoben hat in der Hoffnung, in Zukunft nie wieder etwas von ihnen hören zu müssen, zu Beginn seiner inzwischen sieben ins Deutsche übertragenen Romane einführt. Da geht man mit dem Erzähler die knarrenden Treppen ihrer Absteige an der Aldersgate Street hinauf und hinab, schaut in die einzelnen Zimmer hinein, auf und unter die Schreibtische der Protagonisten, lauscht den aus allen denkbaren Körperöffnungen Jackson Lambs, des Chefs der Abgehängten, durchs ganze Haus dröhnenden Geräuschen nach und macht sich langsam bereit für ein neues Abenteuer, in dem die hier versammelten Verlierer eigentlich hoffnungslos unterlegen sein müssten.
Was sie freilich nie sind, auch wenn der Zufall bei ihren Einsätzen schon immer eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat. Allein diesmal scheint es wirklich lebensbedrohlich für die kleine Truppe zu sein. Denn jemand hat dem Feind, bei dem es sich um den russischen Militärgeheimdienst GRU handelt, geflüstert, dass es sich bei den Slow Horses um Angriffsziele handelt, deren Ausschaltung dem britischen Imperium aber so richtig wehtun würde.
Spione im Abseits
Mick Herron (Jahrgang 1963), der legitime Nachfolger von John le Carré, hat seinen Zyklus von inzwischen acht Spionage-Romanen ganz anders angelegt als die Bücher seines berühmten Vorgängers rund um dessen legendäre Gestalt George Smiley. Und doch ist es unübersehbar: Etwas von jenem Geheimagenten, dessen Genialität und Spürsinn im Job immer konterkariert wurden von seinen sozialen Defiziten und einer leicht melancholischen Ader, hat sich auch auf Jackson Lamb, den uneingeschränkten Herrscher von Slough House, übertragen. Nur dass man es hinter dessen offen zur Schau getragener Unflätigkeit kaum wahrnimmt. Aber so ganz herzlos, wie er sich in der Regel gibt, ist Lamb nicht. Zumal wenn es darum geht, seine »Joes«, wie die ihm anvertrauten Männer und Frauen im Geheimdienstjargon genannt werden, halbwegs heil aus deren – häufig selbst verursachten – Bredouillen herauszuholen.
Inzwischen spielt die Geschichte um ein gutes halbes Dutzend ausrangierte Spione und ihren Anführer übrigens in der Post-Brexit-Zeit. Das Geld ist knapp geworden in Merry Old England und auch »Her Majesty‘s Secret Service« muss sparen oder sich um geheimdienstferne Sponsoren kümmern. Doch wer sich Partner ins Boot holt, die nur dann zusteigen, wenn sie auch selbst etwas von dem Deal haben, darf sich nicht wundern, wenn sich Lücken im System auftun. Wo Letzteres passiert, wird es natürlich auch immer Personen geben, die für Indiskretionen und Durchstechereien im schlimmsten Fall mit ihrem Leben zu bezahlen haben. Und wer böte sich für diese wenig dankbare Rolle wohl mehr an als jenes kleine Häufchen von aus Sicht der Geheimdienstoberen völlig nutzlosen und deshalb ins Spionage-Abseits versetzten »lahmen Gäule«?
Auf einer Abschussliste lebt es sich gefährlich
Dass Jackson Lambs kleine Truppe deshalb aus den Büchern des Geheimdienstes über Nacht verschwunden ist – wen wundert’s? Auf einer Liste, die über geheime Kanäle nach Moskau und von dort ins Gepäck einer zu blutigen Rachetaten ins britische Königreich entsandten Killertruppe gelangt ist, existiert man freilich noch. Glücklicherweise ist es um die Aktualität des Schriftstücks aber mehr als schlecht bestellt. Denn es finden sich auf ihr auch Mitglieder der Slow Horses, die längst ihren Dienst quittiert haben.
Als zwei dieser Ehemaligen unter merkwürdigen Umständen das Zeitliche segnen, verstehen Lamb und die Seinen nämlich schnell, dass sie, wenn sie nichts unternehmen, die Nächsten sein werden, deren Leben auf dem Spiel steht. Und der um die ihm Anvertrauten besorgte Herbergsvater ordnet sofort den Ausnahmezustand an. Dass man sich danach nicht nur um das russische Killerkommando kümmert, sondern auch um jene, die glaubten, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können, indem man dem Feind Opfer präsentierte, die endlich von der Gehaltsliste verschwinden sollten, versteht sich von selbst. Und auch, dass die Aktionen der aufgescheuchten lahmen Gäule unterm Strich nicht ohne Pannen, Verwechslungen und einige Kollateralschäden abgehen, wundert letztlich niemanden, der die bisherigen Bände der Reihe gelesen hat.
Spannung, Zeitkritik und Humor
Auch Slough House, der siebente, von Stefanie Schäfer wieder kongenial ins Deutsche übertragene Roman um die Abenteuer der aussortierten Spione des MI 5, unterhält durch eine geschickte Mischung aus Spannung, Anspielungen auf die aktuelle Situation im Königreich und eine Prise schwarzen englischen Humors. Dass die Reihe irgendwann enden wird, ist mehr als bedauerlich. Allein jetzt darf man sich erst einmal auf Band 8 freuen, der im Original den Titel Bad actors trägt, oder sich mit den ersten vier Staffeln der nach Herrons Romanen gedrehten Serie Slow Horses – Ein Fall für Jackson Lamb amüsieren. Was danach kommt, ist noch offen. Allein dass es noch einiges zu tun gibt für Lamb und sein Team, dürfte unbestritten sein.
Titelangaben
Mick Herron: Slough House. Ein Fall für die Slow Horses
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Zürich: Diogenes 2024
431 Seiten. 19 Euro
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