Die Werke des Comic-Künstlers Marc-Antoine Mathieu stehen für sich. Er hat sich eine eigene Nische geschaffen, die er nun mit einem neuen Zweiteiler bereichert: ›Deep me‹ und ›Deep it‹. In deutscher Übersetzung bei Reprodukt herausgebracht, belegen sie die beiden Bände erneut Mathieus Ausnahmestatus. Von CHRISTIAN NEUBERT
»Wer bin ich – und wenn ja, wie viele«: Dieser griffige Titel machte den Publizisten Richard David Precht zum Bestsellerautor, bevor er zu einer umstrittenen TV-Persönlichkeit avancierte.
Unbestritten ist dagegen der Ausnahmestatus des französischen Comic-Künstlers Marc-Antoine Mathieu. Der ist zwar nicht gerade ein Bestsellerautor, aber ebenfalls für philosophisch angehauchte Themen gut. Wie eben bei ›Deep me‹ und ›Deep it‹, seinem neuen Comic-Diptychon, dessen zweiter Band jüngst in deutscher Übersetzung bei Reprodukt erschien: Die eingangs zitierte Fragestellung könnte auch seinen Zweiteiler betiteln.
›Deep me‹ handelt von einem Menschen, der offenbar im Wachkoma liegt, mit klaffenden Gedächtnislücken. Der sich nicht rühren oder sich anderen mitteilen kann, während zumindest sein Gehör zu funktionieren scheint. Er dämmert vor sich hin, allem Anschein nach im Krankenbett.
Er kennt allerdings Wachphasen. Sein Geist ist dann rege – und rätselt vor sich hin. Er versucht sich zu erinnern, sinniert, sucht horchend nach Hinweisen und horcht suchend nach bekannten Stimmen und Geräuschen. Dazwischen: Schlaf, nichts, Nichts. Die Abwesenheit von Eindrücken und Empfindungen – und vermutlich auch von Träumen.
Ins Schwarze getroffen
Den Rahmen seines inneren Monologs bilden klassische Comic-Raster. Nur: Die Panels zeigen meist nichts außer Text in Sprechblasen. Beziehungsweise: Nichts außer Text in Sprechblasen – und Schwärze. Schwärze, in die sich dann doch Erinnerungsfetzen als wiederkehrende Bilder einschleichen. Sie treten vors dritte Auge des Komapatienten, zunächst schemenhaft, aus weiter Ferne kommend. Doch nach und nach werden sie schärfer, lichter, einleuchtender. Und offenbaren schließlich die Geschichte eines Individuums, die alles andere als alltäglich ist. Spannend!
Sicher: So manchem Leser wird Mathieu mit diesem Band, der über weite Strecken keine Bilder zeigt, vor den Kopf stoßen. Dennoch sollten sie seinem Comic-Experiment eine Chance geben. Bis sie schließlich erkennen, was Mathieu-Kenner schon wissen: Dass der 66-jährige Franzose ein Abenteurer an den Grenzen des Mediums ist, der den Möglichkeiten des Erzählens in Comic-Form immer wieder neue interessante Facetten abringt. Hier beispielsweise, indem er das Quasi-Nichts an Information, das die schwarzen Panels einer Comicseite bergen, dadurch mit Bedeutung auflädt, dass er den Leerraum zwischen den Panels immer wieder mit Graustufen und Schwärze überschattet. Fade to black: Es dämmert, dass hier Zeit vergeht, dass sich Sinne trüben und dass sich Wach- und Schlafphasen überlagern und ablösen.
Inhalt und Topform
Man kann kaum auf die Handlung des Comics eingehen, ohne direkt zu spoilern. Was schlicht auch daran liegt, wie geschickt Mathieu hier Inhalt und Form verwebt – wie schon so oft, wie kaum ein Zweiter. Stärkere Bilder hat Mathieu natürlich andernorts geschaffen, erhellendere Eindrücke aber schon länger nicht mehr. ›Deept me‹ nimmt einen mit auf eine Reise mit unbekanntem Anfang und ungeahntem Ausgang – geist- und wendungsreich, packend, mitreißend.
Für ›Deep it‹, den zweiten Band des Diptychons, gilt derweil das gleiche. Er setzt ›Deep me‹, das sich als geschlossenes Werk lesen lässt, auf originelle Weise fort – mit weiteren überraschenden Twists und klugen Gedankenspielen.
Titelangaben
Marc-Antoine Mathieu: Deep me
Aus dem Französischen von Hanna Reininger
Berlin: Reprodukt 2023
120 Seiten. 24 Euro
Marc-Antoine Mathieu: Deep it
Aus dem Französischen von Hanna Reininger
Berlin: Reprodukt 2024
112 Seiten. 24 Euro