Masse ohne Effekt

Digitales | Games: Mass Effect Andromeda

Einfach mal aussteigen und den Alltag komplett umkrempeln. Was heutzutage die spirituelle Reise nach Indien ist, kann im nächsten Jahrhundert das One-Way-Ticket zu anderen Welten sein. In dem Videospiel ›Mass Effect: Andromeda‹ lässt sich der Schrecken erleben, wenn die neue Galaxie doch nicht der Version aus dem Hochglanzprospekt entspricht. FLORIAN RUSTEBERG ist mitgereist und fragt sich, ob es die Mühe wert war.

Es gibt in jedem Geschäftsfeld große Namen und Marken, bei denen der Kunde schon beim Klang weiß, wie das Produkt beschaffen sein wird. Seien es die Designer-Elektronikartikel von Apple oder eine hochwertige Limousine von Mercedes Benz. Ein ähnliches, vertrautes Gefühl löst ein in die Ohren gehauchtes ›BioWare‹ im Kopf von Rollenspielfans aus. Mit ›Baldur’s Gate‹, ›Neverwinter Nights‹ und ›Star Wars: Knights of the Old Republic‹ wurden um die Jahrtausendwende Klassiker geschaffen, die ältere Spieler nach wie vor in guter Erinnerung bleiben. Was sie besonders machte? Zum einen waren sie fest verwurzelt in ihrem Quellmaterial, dem ›Dungeons & Dragons‹ und ›Star Wars‹-Universum, und wurden gleichzeitig doch zu einer gewissen Eigenständigkeit herangezüchtet. Der zweite Summand, der die Gleichung komplettiert, war die Dynamik der Protagonisten-Gruppe. Der Spieler ist dabei, wenn sich Einzelkämpfer zusammenfinden, eine starke Einheit bilden und untereinander interagieren. Die Charakterentwicklung bringt Verbundenheit und Sympathie. Jenes sollte der Markenkern von ›BioWare‹ werden und in den folgenden 10 Jahren erschienen je drei Ableger der ›Dragon Age‹ und ›Mass Effect‹-Reihe. Abseits der Unterschiede in Schauplatz und Gattung ist die Verwandtschaft ersichtlich. Der besondere, auserwählte Protagonist schart eine Gruppe Verbündeter um sich, aus denen zwei Begleiter für die gemeinsamen Einsätze gewählt werden können. Das Kennenlernen des Trupps, Zankereien und Techtelmechtel können sich gut als Erlebnis neben der Hauptgeschichte etablieren. Manch falsche Entscheidung kann sogar das Schicksal einzelner Gefährten besiegeln.

Die Erwartungen an ›Mass Effect: Andromeda‹ sind also klar abgesteckt. Nur Schade, dass die Geschichte der Vorgänger um »Commander Sheppard« ein definitives Ende gefunden hat. So braucht es einen radikalen Tapetenwechsel. Ort des Geschehens ist nun die namensgebende Andromeda-Galaxie, der nächste, große Nachbar unserer eigenen Milchstraße. Die Andromeda-Initiative hat mit dem Versprechen von sogenannten ›goldenen Welten‹ zehntausende Pioniere auf die 600 Jahre lange Reise ins Ungewisse gelockt. Ein Neuanfang für jedermann, die Besiedlung einer neuen Welt und traumhafte Landschaften. Kaum wacht der eigene, männliche oder weibliche, Spielcharakter mit Nachnamen Ryder aus dem Gefrierschlaf auf, sieht die Realität ganz anders aus. Abgesehen von dem eigenen fehlen noch drei weitere Siedlungsschiffe, eine mysteriöse, gigantische Wolke aus dunkler Energie geißelt jeden, der sich ihr nähert und zu allem Überfluss kam es auf der vorausgeschickten Basisstation zu einem brutalen Aufstand. Neben dem Phänomen der Wolke, durch die aus einst ›goldenen Welten‹ unwirtliche Ödnis geworden ist, verbreiten feindlich gesinnte Aliens, die Kett, Furcht und Schrecken. Natürlich fällt die Führungsrolle in dieser schweren Zeit prompt unserem Protagonisten zu, nachdem sein Vater, der Pathfinder, bei der ersten Mission zu Tode kommt. Es gibt also viel zu tun! Mit eigenem Team und Raumschiff geht es nun darum, das ›Heleus-Cluster‹ zu erkunden und Planeten wieder bewohnbar zu machen. Mit der Zeit werden zwar einige Geheimnisse gelüftet, doch tun sich ebenso neue Rätsel auf.

Auf diesem Weg warten zahlreiche Planetensysteme auf ihre Erkundung. Einzelne Planeten zum Landen gibt es nur wenige. Lediglich sieben Welten bieten größere Areale, die dafür immerhin stattlich groß sind und ihre eigenen Geschichten bieten. Dennoch beginnen hier schon die Probleme. Die Areale sind leer und wüst, die kleinen Ansiedlungen und Stützpunkte sind meist belanglos oder nur für eine der zahlreichen ›Geh-dorthin‹-Nebenmissionen interessant. Die Fauna überzeugt ebenfalls nicht, denn die wenigen Arten lassen sich grob in drei Kategorien einordnen. Von intelligentem Leben finden wir nur zwei Spezies vor, die dazu noch sehr nah an den menschenähnlichen Konzepten der aus der Milchstraße eingereisten fünf Rassen sind. Dass sich an jeder Ecke Relikte einer vergangenen, hochentwickelten Zivilisation finden, überrascht nur wenig. Leider enttäuscht die gesamte neue Welt dadurch, wie altbekannt sie wirkt; seien es Wüsten, Gebirge und Eislandschaften. Der Optik bietet das leider wenig Gelegenheit zum Glänzen. Eine Ausnahme bildet die Flora der Andromeda-Galaxie – wo sie auftaucht, bringt sie einen Tupfer Exotik. Am stimmungsvollsten präsentiert sich die Dschungelumgebung, die allerdings deutlich kleiner als die anderen Landschaften ausfällt. Der Schritt zu einer offenen Spielwelt ist leider nicht gut gelungen.

Oben genannte Punkte sind Defizite, die hoffentlich durch eine durchdachte Geschichte und stimme Dialoge ausgeglichen werden – so würde ein Fan an dieser Stelle hoffen. Das klappt aber nur teilweise. Die bloße Menge der Dialogzeilen ist schon eine Herausforderung. Ihren Tribut verlangt diese Mammutaufgabe in der Qualität der dargebotenen Unterhaltungen, die stark schwankend ist. Gleiches lässt sich bei den Sprechern feststellen. Die deutsche Synchronisierung trifft es noch härter, da sie zusätzlich an einer schlechten Übersetzung krankt, die nicht zu empfehlen ist. Beispielsweise wird aus dem als jugendlich und energetisch konzipierten Begleiter Liam im Tutorial eine unerträgliche Nervensäge und nach einem Schäferstündchen in der Schwerelosigkeit wird weiterhin distanziert gesiezt. Gut, dass sich Sprachausgabe und Schriftsprache separat ändern lassen. Unabhängig von der Sprache scheinen die Gesichtsanimationen im emotionalen Gerfrierschlaf verblieben zu sein. Viel Spott im Internet erhielten die teilweise absurden Gesichtsverrenkungen, die von einem Algorithmus automatisch ausgeführt werden. Ein schnelles Update milderte den Effekt auf ein erträgliches Niveau. Gutes Mittelmaß ist es, mit Blick auf die Konkurrenz, beileibe nicht. Den ersten Eindruck vertut ›Mass Effect: Andromeda‹ deutlich, denn anfangs tröpfeln Erzählung und Hintergrundgeschichten gemächlich und sind teils nicht ganz nachvollziehbar. Seine Stärken spielt ›BioWares‹ Werk erst in der Tiefe aus, denn wenn bei Charakteren nachgehakt wird, erzählen sie viel mehr, als für die Aufgabe nötig. In der Art eines Puzzles erschließt sich manche Situation erst mit Informationen aus mehreren Quellen. Ein prall gefüllter, schriftlicher Codex bietet weiteres Hintergrundwissen für Leseratten und fungiert zusätzlich als Nachschlagewerk.

Bisher ist noch kein Wort gefallen, wie sich dieses ›Mass Effect‹ eigentlich spielt: Wie seine Vorgänger ist es ein 3rd-Person-Shooter mit Deckungsmöglichkeiten. Aufgelockert wird die simpel gehaltene Ballerei durch eine Vielzahl an Fähigkeiten, die den Spielstil komplett ändern können. Neu ist eine Schubdüse, die große Sprünge und Ausweichmanöver ermöglicht. Die Art des Kampfes ist vielfältig, zu komplex für den einfachen und normalen Schwierigkeitsgrad. Die höhere Schwierigkeit frustriert Spieler hingegen durch fast willkürliche Tode. Zu komplex sind ebenfalls die Menüs, die nicht mehr zeitgemäß, viel zu überladen sind und dabei den vorhandenen Platz schlecht nutzen. Besonders das Reisen durch das ›Heleus-Cluster‹ ist umständlich, im späteren Spielverlauf sogar nervig.

Getrost könnte ›Mass Effect: Andromeda‹ als ein ausgezeichnetes Videospiel bezeichnet werden… wäre es im letzten Jahrzehnt erschienen. Im Jahr 2017 bleibt ein umfangreiches Sci-Fi-Rollenspiel, das gelegentlich altbacken wirkt und wenig tatsächliche Innovation zeigt. Trotzdem bietet der Ausflug in die Andromeda Galaxie viele Dutzend Stunden Spielspaß und dialogreiche Unterhaltung, genau, wie es von ›BioWare‹-Spielen zu erwarten ist. Wer sich gerne auf deren Charaktere und Geschichten einlässt und gewillt ist, aktiv nachzuforschen, wird ein weiteres Mal zufriedengestellt. Wenn es dann doch reicht, können die Spieler schließlich jederzeit in die heimatliche Milchstraße zurückkehren.

|FLORIAN RUSTEBERG

Titelangaben
Mass Effect Andromeda
Electronic Arts, BioWare
seit März erhältlich für PlayStation 4, Xbox One, Microsoft Windows.
ab 49,99€

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