/

Eine menschliche Dimension

Gesellschaft | Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung

Armageddon kennen wir als den biblischen Ort der finalen Schlacht zwischen den Mächten des Guten und des Bösen, und Jean Ziegler sieht die Menschen in der Endphase eines globalen Klassenkampfes. Auf der einen Seite stehen die paar Oligarchen, die transnational die ökonomischen Abläufe beherrschen und steuern, auf der anderen Seite der Rest der Menschheit. Von WOLF SENFF

Ziegler - der schmale Grat der HoffnungDie UNO, gegründet aus den bitteren Erfahrungen der Weltkriege, sei trotz all ihrer inneren Widersprüche bereits ein Kind der neuen Zeit, auf das sich seine Hoffnung richtet. Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter und Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, sollte es wissen.

Vom Alltag weit entfernt

Zu sagen, er sei ein Fels in der Brandung, eine Ikone des Widerstands oder ein Stachel im Fleisch, das träfe nur teilweise zu, weil es ihn in eine Einzelkämpferhaltung drängen würde. Aber in den Gremien der UNO wird Politik gemacht. Das ist oft ein spannender Prozess, da werden Mehrheiten zusammengeschweißt, wird die eine Abstimmung gewonnen, die andere geht verloren, Jean Ziegler hat mitgewirkt, und oft genug ergab sich eine glückliche Fügung.

Sicher, die UNO ist weit von unserem Alltag entfernt, oder zumindest haben wir diesen Eindruck. Doch in den Episoden, die Jean Ziegler aus seiner persönlichen Erfahrung wiedergibt, lesen wir, wie konkret diese Arbeit gerade auf den Alltag zielt, beispielsweise in der teilweise erfolgreichen Bekämpfung des Hungers in der Welt; schon surrt diese Entfernung zusammen, und wir verspüren den Abglanz einer sinnerfüllten Arbeit.

›Schutzverantwortung‹

Dennoch fürchtet Jean Ziegler um die Arbeitsgrundlage der UNO und erinnert an die Reformvorschläge Kofi Annans von 2006, denen es vor allem um eine Modifikation des Vetorechts geht, das für alle Konflikte, in denen es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehe, aufgehoben werden müsse.

Jean Ziegler erinnert an die sogenannte Schutzverantwortung der UNO, derzufolge eine Bevölkerung notfalls sogar gegen ihre Regierung zu verteidigen sei. Auf diese Weise sei mittels Luftüberwachung die kurdische Bevölkerung im Norden des Irak gegen eine Verfolgung durch Saddam Hussein geschützt worden (Resolution Nr. 688 vom 5. April 1991). In gleicher Weise hätte diese Schutzverantwortung gegen Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien und Guatemala angewendet werden müssen. Dies sei jedoch von vornherein aufgrund des Vetos der USA chancenlos gewesen. Das Vetorecht werde missbraucht.

Mediale Aufmerksamkeit

Ebenso sei es ein leichter Schritt, gegen Hunger und Unterernährung vorzugehen. Ziegler erinnert an den 11. September 2001, als bei den terroristischen Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon 2973 Personen getötet wurden – ein Super-GAU, in den Medien mit höchster Aufmerksamkeit bewertet.

Nur – dass an diesem wie an jedem anderen Tag fünfunddreißigtausend Kinder unter zehn Jahren Opfer von Hunger oder Unterernährung werden, das nehme die mediale Berichterstattung gar nicht zur Kenntnis. Wirksame politische Maßnahmen – das Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln an der Börse, die Entschuldung der ärmsten Länder – würden keine Rolle in den hiesigen politischen Debatten spielen, die Machtpolitik kenne keine moralischen Kategorien.

Aber noch einmal: Das Vergnügen an dieser Lektüre gewinnen wir weniger aus der überzeugenden Argumentation als aus der stets vorhandenen persönlichen Färbung. Jean Ziegler vesteht es, uns diverse Persönlichkeiten, deren Namen uns aus den Nachrichten geläufig sind, auf sympathische Weise in eine menschliche Dimension zu rücken.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung
Meine gewonnen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden.
München: C. Bertelsmann 2017
320 Seiten, 19,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Back in the timeline. Das Jahr 1967 in der Musik- und Kulturgeschichte

Nächster Artikel

Auf ins Geschichtenland

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Gemeinsame Geschichte

Sachbuch | Ilan Pappe, Jamil Hilal (Hrsg.): Zu beiden Seiten der Mauer 1997 gründeten palästinensische und israelische Historiker und Sozialwissenschaftler die Arbeitsgruppe PALISAD (Palestinian and Israeli Academicians in Dialogue). Auslöser war das faktische Ende des Friedensprozesses nach dem Mord am israelischen Regierungschef Rabin. Die Wissenschaftler hatten eines erkannt: um langfristig zu Frieden und Verständigung zu kommen, muss zuerst eine realistische, entideologisierte Sicht der gemeinsamen Vergangenheit gefunden werden. Das Ergebnis haben Ilan Pappe und Jamil Hilal unter dem Titel Zu beiden Seiten der Mauer zusammengetragen. Von PETER BLASTENBREI

Wagenburg-Mentalität

Gesellschaft | Varoufakis / Holland / Galbraith: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise

Der moderne Sisyphos

Gesellschaft | Yanis Varoufakis: Time for Change – Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre Wem David Graebers ›Schulden‹ oder Thomas Pikettys ›Kapital im 21. Jahrhundert‹ zu dick sind, wer nicht mit ›Attac‹ oder ›Occupy!‹ zelten geht, aber mit wachsendem Ingrimm erlebt, wie Geld die Welt nicht mehr nur regiert, sondern ruiniert, der/die greife zu Yanis Varoufakis‘ ›Time for Change‹ rät PIEKE BIERMANN. Der frischgebackene Ex-Finanzminister Griechenlands hat ein kleines Buch geschrieben, in dem er erklärt, wie das funktioniert, was wir Wirtschaft nennen.

Alte neue Überfremdungsfantasien

Gesellschaft | Doug Saunders: Mythos Überfremdung Als der Rechtsterrorist Breivik zu seinem Todeszug aufbrach, hinterließ er auf dem Computer ein Manifest von nicht weniger als 1518 Seiten. Die norwegische Justiz behandelte Breivik als Einzeltäter. Dieser Text zeigt aber, dass er sich selbst als Glied einer internationalen Front verstand, für die längst unumstößliche Glaubenstatsache geworden ist, was der kanadische Publizist und Migrationsforscher Doug Saunders den Mythos Überfremdung nennt. Von PETER BLASTENBREI

Ein Buch, das erschüttert

Gesellschaft | Marceline Loridan-Ivens: Und du bist nicht zurückgekommen Sie lesen gerne in der Bahn oder im Bus auf dem Weg zur Arbeit? Und das kleine »Büchelchen« mit den 110 Seiten scheint Ihnen eine gute Lektüre zu sein? Vielleicht überdenken Sie dies noch einmal, oder weinen Sie gerne in der Öffentlichkeit? TANJA LINDAUER über Marceline Loridan-Ivens Roman ›Und du bist nicht zurückgekommen‹.