Kinderbuch | Oliver Jeffers und Sam Winston: Wo die Geschichten wohnen
»Ich bin ein Kind der Bücher«, so beginnt ein kleines Mädchen ihre Geschichte und nimmt Reiselustige mit auf eine Entdeckungstour ins Land der Fantasie. Von ANDREA WANNER
Die Liste der Bücher, die zur Inspiration für diesen Ausflug ins Reich der Literatur dienten, ist lang und vielseitig. Sie ziert den Vorsatz in winziger Schrift, die Titel fett gedruckt, die Namen der Autorinnen und Autoren kursiv. Jules Vernes ›Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer‹ steht da neben Levis Carolls ›Alices Abenteuer im Wunderland‹, ›Der Mond ist aufgegangen‹ von Matthias Claudius neben ›Rapunzel‹, erzählt von Jacob und Wilhelm Grimm, ›Der Zauberer von Oz‹ von L. Frank Baum neben ›Der Wind in den Weiden‹ von Kenneth Grahame. Pinocchio, Frankenstein, Heidi: Wie entdecken sie alle wieder. Wo sie uns auf der Reise begegnen, wird auch verraten, dazu gibt es Begriffe, die die einzelnen Stationen markieren: DER WALD, DIE WELLE, DIE WOLKEN, DER MOND … Und so vorbereitet auf das, was uns erwartet, schließen wir uns dem Mädchen auf ihrem Weg an, wie der Junge, den sie dazu einlädt.
Als Motto dient ein Zitat der amerikanischen Dichterin und politischen Aktivistin Muriel Rukeyser: »The universe is made of stories, not of atoms.« Wie lässt sich ihr Bild in Bilder umsetzen? Oliver Jeffers und Sam Winston erzählen in einem youtube-video vom Making-of ihrer Liebeserklärung an die Welt der Wörter und Buchstaben, wo sie zunächst die Kleine auf einem ganz einfach Floß sitzen und lesen lassen, bis das kleine Schiff dann auch schnell mitgerissen wird von einer ganz besonderen Welle:
Sie treibt über ein Meer aus Wörtern – und das ist ganz wörtlich zu nehmen. Statt blauer Farbe, mit der sonst üblicherweise in Bildern Wasser aufs Papier gezaubert wird, sind es hier schlicht Wörter. Aus Buchstaben und Wörtern entstehen in der Folge Berge und Äste an Bäumen, pludrige Wolken und ein gruseliges Monster. Kleine typografische Kunstwerke verdichten die Zeichen, lassen sie kopfüber von oben nach unten purzeln, diagonal über die Seiten klettern. Ihres ursprünglichen Sinns enthoben werden die Lettern direkt zu den Bildern, die sie sonst bedeuten.
Auf den meisten Seiten braucht es dazu wenig Farbe, so wie außer in Bilderbüchern Geschichten ja meist mit schwarzer Druckerfarbe auf weißem Papier erzählt werden.
Das allererste Bild zeigt ein Tintenfass, eine Schreibfeder und ein pergamentfarbenes Blatt Papier. Das Segel, das das kleine Floß über das Wörtermeer treibt, ist ein cremefarbenes Papier. Und dann schleicht sich, fast unmerklich, Seite um Seite doch ein bisschen mehr Farbe in die Geschichte. Die Streifen auf dem Matrosenkleidchen der Kleinen werden blau, ehe dann am Ende das ganze Kind in zartem Blau leuchtet. Die Stämme der knorrigen Bücher im Zauberwald sind braun: Der Blick auf die Schnitte alter, eingestaubter Folianten. Und ganz folgerichtig gibt es auch eine richtig bunte Seite, wo die Farben explodieren und die Buchstaben ins All geschleudert werden.
Seite um Seite gelingt dem Duo Jeffers und Winston ein kluges, stimmiges und einladendes Bild davon, was Geschichten sind und was sie bewirken. Was Sprache und Schrift für uns bedeuten und wie sie unser Leben zu dem machen, was es ist. Das können Kleine angucken, die etwas Älteren vielleicht erahnen und vermutlich erst die Großen wirklich verstehen. Macht nichts. Es ist wie mit den Geschichten. Mit manchen sind wir groß geworden, um ihren Sinn erst zu begreifen, wenn sie längst Teil unseres Lebens geworden sind. Und für das kleine, goldene Schloss, das auf dem roten Buch des Covers darauf wartet, aufgeschlossen zu werden, findet sich am Ende der passende Schlüssel.
Titelangaben
Oliver Jeffers und Sam Winston: Wo die Geschichten wohnen
(A Child of Books, 2016). Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
München: Mixtvision 2017
40 Seiten. 14,90 Euro
Bilderbuch für alle