Jugendbuch | Traci Chee: Ein Meer aus Tinte und Gold
»Es war einmal und es wird eines Tages sein.« So fangen alle Geschichten an. Komplexe Fantasywelten zu erdenken ist eine Kunst, die, wenn sie gelingt, oftmals nicht nur für eine Geschichte taugt, sondern ganz Serien zur Folge hat. Traci Chee wagte sich mit ihrem Debüt auf bewegte See. Von ANDREA WANNER
Die Idee, die sich die amerikanische Autorin ausgedacht hat, ist faszinierend: eine Welt ohne Bücher. Geschriebene Worte existieren nicht, zumindest nicht öffentlich. Es gibt Lektüre, gut versteckt, aus einer Zeit »davor«. Und wer die Zeichen auf dem Papier zu deuten weiß, lebt gefährlich, muss sogar um sein Leben bangen.
Sefias Eltern wurden brutal ermordet. Seither ist sie mit ihrer Tante Nin auf der Flucht – bis auch diese entführt wird. Was die Täter aber eigentlich suchen, ist der Gegenstand, den das Mädchen bei sich trägt: ein Buch. In ihrer grenzenlosen Verzweiflung schaut sie sich das seltsame Ding näher an und beginnt sich zu erinnern. Daran, dass ihre Mutter ihr vor langer Zeit die Bedeutung der Buchstaben beibrachte. Sefia beginnt den Sinn der Zeichen zu entschlüsseln und lernt mühsam das Lesen.
Dieser eine Handlungsstrang wird ergänzt durch die Begegnung mit einem stummen Jungen, der Schreckliches durchgemacht hat und zu Sefias Gefährten wird und sie auf der Suche nach ihrer Tante begleitet.
Um die Hauptgeschichte ranken sich weitere – eine Geschichte in der Geschichte, die in dem geheimnisvollen Buch steht und eine Bibliothek mit zahlreichen Akteuren als Ausgangspunkt eines weiteren Handlungsstranges. Das Erzählen wird ständig unterbrochen, setzt an anderer Stelle wieder an und nach und nach werden die losen Fäden zusammengeführt, bilden eine gemeinsame Geschichte. Dafür braucht es Geduld beim Lesen. Die Autorin macht es einem dabei nicht ganz leicht. Auch wenn der Stil durchaus einladend ist, ihr eindrucksvolle Bilder gelingen und ein hohes Maß an Spannung erzeugt wird – gelegentlich hat man einfach das Gefühl, dass ihr die eigene Geschichte zu klar ist, weil sie das Ziel kennt und sie die Orientierungslosigkeit des Lesers nicht nachvollziehen kann. Manchmal wirkt sie mit dem ganzen magischen Konstrukt einfach überfordert.
Dabei ist nicht nur die Idee fesselnd, auch das Titelbild sowie die Umsetzung im Layout sind ungewöhnlich gelungen. Da sieht das Buch im Buch wie auf Pergament gedruckt aus, es gibt Textübermalungen, die erahnen lassen sollen, dass da etwas besonders brutales dem Leser zur Schonung vorenthalten wird, oder einen Fingerabdruck, der in einem das Gefühl weckt, es gebe genau das eine Buch und nicht eine große Auflage identischer Bücher, die in unserer Welt gedruckt wurden. Leider gelingt es trotz dieser diese Rahmenbedingungen nicht, das Buch mit lebendigen Charakteren, einprägsamen Orten und einer plausiblen Handlung zu füllen. Eine schöne Hülle, nicht viel mehr.
Kelanna ist eine mittelalterlich anmutende Welt, grausam und voller Gewalt. Bücher sind aus ihr verschwunden und mit ihnen das, wofür die Literatur steht: als ein Ort des Erinnerns und Vergewisserns, an dem Dinge erzählt und geteilt werden. Dinge, die uns helfen, die Welt zu verstehen. Band 1, ›The Speaker‹, erschien im vergangenen Jahr auf Englisch, Band 2, ›The Reader‹, wird im Herbst auf Englisch erscheinen und einen dritten Band soll es auch geben. Nur zu gern hätte man sich in dieses Meer aus Tinte und Gold geworfen, in dem aber leider selbst versierte Schwimmer unterzugehen drohen.
Titelangaben
Traci Chee: Ein Meer aus Tinte und Gold
(The Reader. SeaofInkand Gold, 2016)
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Hamburg: Carlsen 2016
480 Seiten. 17,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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