Sublimation

TITEL-Textfeld | Iryna Fingerova: Sublimation

Am Morgen wachte Addiktia auf, wusch sich, spülte den Mund mit einem Aufguss von Eichenrinde und geriet ins Brüten, warum in aller Welt sie eigentlich lebte. Aber kaum hatte sie sich ihren Grübeleien hingegeben, da kam schon ein leeres Blatt Papier durchs Fenster geflogen und begann sie zu würgen. Als das Blatt damit fertig war, stand sie plötzlich in einem schönen Bürokleid da. Das Blatt riss Addiktia von den Beinen, lupfte sie auf seinen Rücken, als wäre es ein fliegender Teppich, und flog zum Fenster hinaus.

TITEL TextfeldSie flogen inmitten von Wolken und Addiktia sah, dass Wolken aus Zahlen und Buchstaben bestehen. Überall zogen lange Reihen aus Funktionsgraphen und Gleichungen vorüber, sie lächelten, verbeugten sich vor der jungen Frau und massierten ihre Fußsohlen. Addiktia war glücklich. Wie angenehm, einmal von allen angebetet zu werden! Wenn sie ach unten blickte, sah sie andere Leute (denen massierte niemand die Fußsohlen!), sie zeigte mit dem Finger in ihre Richtung und kicherte gemeinsam mit ihrem neuen Freund – dem weißen Blatt.

Bald musste sie wieder ernst sein. Wie sich herausstellte, war sie eine Königin. Um sie herum wirbelten Zahlen, die Hilfe brauchten. Manche kränkelten etwas – man musste Temperatur messen, Einläufe machen und Tee mit Zitrone kochen. Manche hatten ihre bessere Hälfte verloren – man musste in den sozialen Netzwerken Fragebögen erstellen und bei digitalen Heiratsvermittlungen anklopfen. Kaum wollte Addiktia durchatmen nach den ganzen Sorgen, da ging eine Lawine aus karierten Zetteln auf sie nieder, und alle piepsten sie: »Schreib, schreib, schreib«.

Sie schrieb längst ohne jedes Zeitgefühl und hatte schon mehrmals die Hände gewechselt, weil die alten vor Müdigkeit abgefallen waren, aber es schwebten immer mehr Zettel herbei. Addiktia machte weiter – sie war doch trotz allem eine gute Königin! Die Uhr klingelte. Es wurde Abend. Die Buchstaben und Zahlen flatterten weniger freudig umher, sie dachten langsam ans Heimgehen, in ihre zweidimensionalen Höhlen, wo sie neue Gleichungen machen konnten.

»Für mich ist es auch Zeit«, sagte Addiktia zu sich selbst. Da trug sie das Blatt auch schon mit sich fort – einen Wimpernschlag später war die junge Frau zuhause, in ihrem Zimmer, auf ihrem Bett.

Sie seufzte.

Schlief ein.

Wachte auf, wusch sich, spülte den Mund mit einem Aufguss von Eichenrinde, dann geriet sie ins Brüten – warum in aller Welt lebte sie eigentlich…

| IRYNA FINGEROVA

Iryna Fingerova lebt in Odessa. Ihre Texte wurden von Jakob Walosczyk ins Deutsche übertragen.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Seeing Red: An Interview With My Favorite Robot

Nächster Artikel

Die zweite Spielzeit spiel ich alleine

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Wette

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wette

Wette, sagte Annika, sie habe mit Wette gesprochen, er sei daran interessiert, Doppelkopf zu spielen, was nicht als Absage zu verstehen sei, aber sie möge gern auch Hüttmann fragen.

Schön, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne, die Farb auf der Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glattstrich.

Wette, sagte Farb, hatte Wette nicht Psoriasis, eine Zeitlang sogar im Gesicht, die Haut sei ein sensibles Organ.

So etwas grenze dich aus aus dem Alltag, sagte Tilman, du wirst nicht länger als zugehörig empfunden, doch allem Anschein nach sei das besser geworden.

Karttinger 4

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 4

Als die Karttinger Nahstoll in seiner Klause zwischen Ahrensburg und Rahlstedt besuchte, unangekündigt besuchte, das brachte ihn auf, schilderte sie ihm, wie in der Vendée das Land, ein weitläufiges Flußdelta, dem Meer abgetrotzt worden sei, das Kanalsystem sei weitläufig erhalten und gehöre ins Ressort Denkmalpflege,  der Sumpf sei trockengelegt, die Hautevolee aus der Hauptstadt habe sich dort eingenistet, sie habe Bücher gelesen, Filme gesehen, erzählte ihm von der Bartholomäusnacht und den Feldzügen gegen die Hugenotten, als hätte er das nicht selbst gewußt, er fand das aufdringlich, doch ihre Stimme schmeichelte seinen Ohren, vom Aufbegehren der Royalisten gegen die Jakobiner, die Vendée sei immer schon widerständig gewesen, auch dieser Tage im Kampf gegen die Rentenreform, doch die Unruhen nähmen überhand.

Ramses IX

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ramses IX

Ramses lächelte. Es war abenteuerlich, sich in fremden Gegenden und Kulturen umzutun und einen Eindruck von den Menschen zu gewinnen, durchaus interessant, gewiß, die Kultur der Industriegesellschaft ist hochentwickelt, überlegte er, extrem leistungsbezogen und bestehe doch erst seit zwei Jahrhunderten. Unzählige Menschen lebten auf dem Planeten, und für sie müsse gesorgt werden, da nehme die Verteilung urwüchsige Züge an, das werde man verstehen.

Cale-Raunacht

Kurzprosa | Tina Karolina Stauner: Cale-Raunacht Die Zuhörer im Quasimodo noch in Gesprächslaune. Small Talk und Namedropping. Jemand sagt: »Calexico und Simple Minds haben gerade eine neue CD raus.« Eine Frau, die sich ganz an den Bühnenrand drängt, schreit jemandem nach hinten zu: »Von John Cale haben wir doch auch eine CD, oder?«

Risse

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Risse

Du könntest endlos heulen, doch ändert das nichts.

Lachen, sagte Tilman, lachen am Rande des Abgrunds.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Wenn du weißt, wodurch ein Gewitter zustande kommt, sagte Tilman, mußt du dich nicht länger davor fürchten.