Gesellschaft | Thomas Medicus: Nach der Idylle
Eine Deutschlandreise, und nicht die erste. Deutschlandreisen haben eine gute literarische Tradition. Thomas Medicus fährt mit der Bundesbahn von Süd nach Nord und von Ost nach West, er macht häufig Station, er möchte einen Einblick vom Zustand des Landes gewinnen bzw. besser: ihm den Puls fühlen. Ob ihm das gelingt, fragt WOLF SENFF
Was zuallererst auffällt, ist seine Nähe zu diesem Land, ja, er ist emotional beteiligt, er kümmert sich, er reist nicht aufs Geratewohl, sondern weiß, wohin er will, er ist mit Deutschland vertraut, ein kenntnisreicher Reisender. Das müssen wir schätzen, weil nicht jeder Reisende über seine Aufenthaltsorte informiert ist, wenn er die Reise antritt.
Den hatten wir neulich
Weshalb denn jemand in Gegenden reist, über die er bereits bestens informiert ist? Das ist keine so überflüssige Frage, gewiss, und sie beantwortet sich durch die Lektüre, denn Thomas Medicus erweist sich nicht nur als sachkundiger Beobachter, sondern als treffsicher in der Diagnose, als geübt im Bohren dicker Bretter. Schön.
Etwa so: Von Leipzig und Weißenfels, in der Heimat des bodenständigen romantischen Poeten Novalis, im ländlichen Raum, schneebedeckte Landschaften, auf dem Kyffhäusergebirge das Denkmal zu Ehren Kaiser Wilhelm I., ein wenig weiter die Barbarossahöhle, in der selbiger Kaiser Friedrich I. genannt Barbarossa mitsamt seinen Getreuen schlummert, um dereinst zu erwachen, das Reich zu retten und zu neuer Herrlichkeit zu führen. Genau. So lange ist es gar nicht her, dass wir darauf hereingefallen sind.
Von Aachen, von Görlitz
Die Skulptur der Uta im Naumburger Dom fasziniert ihn als Kunstwerk, doch er erinnert uns daran, dass diese Skulptur vom Nationalsozialismus vereinnahmt wurde. Auch ihm selbst falle es schwer, jene vergiftenden Deutungsschichten zu ignorieren. Und das kommt nicht von ungefähr, denn in eben diesen Regionen Sachsen-Anhalts sind die vergessen geglaubten nationalistischen Traditionslinien heutzutage erneut virulent.
Doch Thomas Medicus verfasst beileibe kein politisches Bekenntnis, seine Wahrnehmungen sind unvoreingenommen, vielschichtig, er zeigt uns vergleichende Aspekte der voneinander so entfernten Orte Görlitz und Aachen, beide in einem Dreiländereck. Er erinnert an die Geschichte des ›Rheingold‹, genießt seine Reise am Fluss entlang und erinnert an den Rhein als ein zentrales Thema deutscher Kultur.
Auf dünnem Eis
Nicht nur in diesem Fall überträgt sich unversehens ein Heimatgefühl, frei von nationalistisch oder auch nur konservativ überhöhten Konnotationen, und wir verstehen seinen Vorwurf einer lange anhaltenden Selbstvergessenheit gegenüber dem eigenen Land. So gelesen hilft diese Publikation, Augen zu öffnen.
Thomas Medicus wirft seinen Blick auch auf die Menschen, und anhand von Biografien, einer Karriere im Schauspielberuf, einer Familiengeschichte wird uns die Vielfalt ebenso wie das dünne Eis deutlich, auf dem sich diese Republik bewegt, und darüber hinaus, so Medicus, ist die innere Stabilität durch die Veränderungen globaler Beziehungen beeinträchtigt – uns stehen keine einfachen Jahre bevor.
Abseits der ›Besserverdiener‹
Das wird an den geschilderten Einzelschicksalen recht krass deutlich. Wir erleben die Wechselfälle des Lebens der Grazyna K., die es aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen von Polen nach Berlin verschlägt, wo sie als Putzfrau arbeitet und lange Zeit ein auskömmliches Leben führt, sich aber letztlich dennoch »verloren« fühlt.
Wir begleiten die Karriere einer leidenschaftlichen Schauspielerin, ihre Ochsentour an Bewerbungen bei staatlichen Schauspielschulen, ihre Praktika in der Kunst-, Film- und Fotoszene. Dann gelingt ihr doch der Sprung an eine Schauspielschule und darauf folgend, als unverhoffter Glücksfall, ein festes Engagement an einem Stadttheater. Dennoch ist ihr klar, dass Unplanbarkeit ein Grundzug ihres Lebens sein wird. Darf es sich eine Gesellschaft auf Dauer leisten, ihre Bürger diesen Zuständen auszuliefern?
Titelangaben
Thomas Medicus: Nach der Idylle. Reportage aus einem verunsicherten Land
Berlin: Rowohlt 2017
320 Seiten, 19,95 Euro
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