Am 9. November jährte sich zum 84. Mal die Nacht, als in Deutschland die Synagogen in Flammen aufgingen. Zwei neue Bücher beschäftigen sich mit dem Antisemitismus und mit der Erinnerung an den Holocaust. Hannah Arendts Buch ›Eichmann in Jerusalem‹, das nun in einer Neuedition vorliegt, löste eine Kontroverse aus, die bis heute nachwirkt. Von DIETER KALTWASSER
Der israelische Soziologe Natan Sznaider beschloss im Jahr 2019 einen Vortrag in der Heinrich Böll Stiftung mit den Worten: »Der Antisemitismus ist der Hass auf das Universale und auf das Partikulare der modernen menschlichen Existenz. Das ist in erster Linie ein jüdisches Problem, aber nicht nur. Der Traum von der perfekten Assimilation ist eine uneinlösbare Illusion. Dies definiert die paradoxe Situation nicht nur von Juden, sondern von allen modernen Menschen: Es ist Bürde und Würde zugleich.«
Antisemitismus hat mit realen jüdischen Menschen nichts gemein, sein Entstehen ist gänzlich unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten. Nach der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ist Antisemitismus »eine bestimmte Wahrnehmung von Juden (…)«. Das ist der Kern, auf den es ankommt: »Eine ganz bestimmte Sicht dominiert, anstatt die jeweilige Person in ihrer Unterschiedlichkeit und Individualität wahrzunehmen. Wer sich über jüdische Menschen eine Meinung bildet, die von ihrem Judentum abgeleitet wird anstatt von ihrem konkreten persönlichen Verhalten, handelt antisemitisch«, heißt es auf der Webseite des »Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus«.
Im Frühjahr 2020 entbrannte die bislang heftigste Kontroverse über Antisemitismus gegen Israel, heißt es im einleitenden Kapitel eines neuen Buches der beiden renommierten Antisemitismusforscher Klaus Holz und Thomas Haury. Sie fahren fort: »Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warf dem postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe vor, in dessen Schriften finde »man alle Merkmale des israelbezogenen Antisemitismus: Israel wird dämonisiert, es wird ein doppelter Maßstab angelegt, und das Land wird als Ganzes delegitimiert.« Mbembe relativiere überdies den Holocaust und unterstütze die Bewegung Boycott, Desinvestment und Sanctions‘ (BDS), die vom Deutschen Bundestag bereits im Jahr 2019 als antisemitisch verurteilt wurde. Zwei Monate nach Beginn der Kontroverse kommt Klein zu dem Ergebnis: »Für mich ist die Angelegenheit leider eindeutig.« In jenen Monaten war eine Vielzahl von Stellungnahmen zu diesem Streit in vielen deutschen und internationalen Medien publiziert worden. In ihrem neuen Buch »Antisemitismus gegen Israel« nehmen Haury und Holz den Streit zum Ausgangspunkt, der Erscheinungsform des israelbezogenen Antisemitismus auf den Grund zu gehen. Sie betonen, es bedürfe »eines hinreichend allgemeinen und tiefenscharfen Begriffs von Antisemitismus, um den israelbezogenen in seiner antisemitischen Qualität erfassen zu können.«
Sie definieren ihn als einen spezifisch modernen, aber zugleich gegen die Moderne gerichteten Sinnzusammenhang, dessen antijüdisches Feindbild vor allem die Funktion der Stabilisierung des Selbstbildes der eigenen Gruppe habe. In jedem einzelnen Fall von Antisemitismus gibt es ein »Ich« oder ein »Wir«, welches sich seine ihm selbst passende Vorstellung vom »Juden« entgegensetzt.« Antisemitismus, schreiben die Autoren, »ist der Sinnzusammenhang eines negativen Judenbildes und eines positiven Selbstbildes, die zu einer Weltdeutung zusammenstimmen.« Diese Selbstbilder in der Forschung zu vernachlässigen, »verzichtet auf Erkenntnisse, mindert die Qualität in der Kritik und das Potenzial an Aufklärung.« Inhalt des überaus differenzierten und luziden Buches von Holz und Haury ist die Analyse der Fälle, in denen die Sicht auf Israel diese Muster reproduziert.
Die Autoren verstehen »Antisemitismus gegen Israel als eine Ausprägung des modernen Antisemitismus überhaupt in allen seinen (vermeintlichen) Typen, wie z.B. dem klassischen, rassistischen, sekundären [schuldabwehrenden] und dem islamistischen Antisemitismus.« Sie orientieren sich in ihrer Gliederung des Buches an der Divergenz der Selbstbilder: »Postnazistischer Antisemitismus (Kap. 3), Antisemitismus von links (Kap. 4), Islamismus (Kap. 5), Antirassismus (Kap. 6), Christen für und wider Israel (Kap. 7) und neue Rechte (Kap. 8). Diese Typen dürfen aber nicht als voneinander abgeschottet betrachtet werden, es werden in den einzelnen Kapiteln zahlreiche Querverbindungen deutlich gemacht.
Der Antisemitismus, der, so die Autoren »in der arabischen bzw. muslimischen Welt vertreten wird, ist in seinen wesentlichen Aspekten ein Import aus Europa.« Er wurde allerdings »an eine islamistische Semantik angepasst, was keine grundlegenden Änderungen der Muster erforderte.« Der »moderne Antisemitismus« entsteht »als eine Weltanschauung, die die neue, ebenfalls von Europa übernommene Leitideologie des Nationalismus durch die Konstruktion eines internationalen, universalistischen Feindes absichert. In diesem Feind wird die moderne Gesellschaft in ihren ‚die Gemeinschaft‘ bedrohlichen Aspekten personifiziert.«
»Ein Verbrechen ohne Namen – Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust«
Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner und Jürgen Habermas zeigen in ihrem konzisen Buch »Ein Verbrechen ohne Namen – Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust« aus ihrer jeweiligen Perspektive, weshalb das Argument von der Präzedenzlosigkeit bzw. Singularität des Holocaust gut begründet ist und die Erinnerung an den Holocaust keineswegs ein den Deutschen aufgezwungener »Katechismus« ist, wie der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe meint.
Jürgen Habermas eröffnet den empfehlenswerten Band mit einem Vorwort:« Wie alle historischen Tatsachen mit anderen Tatsachen verglichen werden können, so auch der Holocaust mit anderen Genoziden. Aber der Sinn des Vergleichs hängt vom Kontext ab.«
Im sog. Historikerstreit 1986/87 ging es darum, so der Philosoph, »ob der Vergleich des Holocaust mit den Stalinschen Verbrechen die nachgeborenen Deutschen von ihrer politischen Verantwortung, oder, wie Jaspers mahnte, ›Haftung‹ für die NS-Massenverbrechen entlasten könne. Denn waren diese nicht, wie der Historiker Ernst Nolte damals meinte, nur eine Reaktion auf die Gräuel des Bolschewismus?«
Das Beharren auf dem »singulären« Zug des Holocaust heißt nicht, betont Habermas, »dass sich das politische Selbstverständnis der Bürger einfrieren lässt. Die Erinnerung an unsere bis vor kurzem verdrängte Kolonialgeschichte ist eine wichtige Erweiterung.«
Hannah Arendt: »Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen«
Arendts Buch über den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der in der internationalen Öffentlichkeit als einer der Hauptverantwortlichen der sogenannten »Endlösung der Judenfrage« galt, fand 1961 in Jerusalem statt und zählt bis heute zu den meistdiskutierten Werken über die NS-Zeit. Arendt nahm als Reporterin für das Wochenmagazin »The New Yorker« am Prozess teil. Aus der Artikelserie erwuchs später das aufsehenerregende Buch, das 1964 von Hannah Arendt publiziert wurde. Vor allem ihre Formulierung von der »Banalität des Bösen« sorgte für Empörung, sie verteidige mit ihr Eichmann und entlaste die Deutschen von ihrer Schuld. Davon allerdings war die Autorin weit entfernt. Angesichts des Abgrunds zwischen der Durchschnittlichkeit Eichmanns und der Ungeheuerlichkeit der Taten schrieb Arendt«: »Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.«
Arendt erklärte und beschrieb, wie in Deutschland ein Beamter zum Massenmörder werden konnte. Die vorliegende Neuedition des Werks bietet dreierlei: Auf eine Skizze zur Entstehung des Buches und der Publikationsgeschichte folgt der Text der deutschen Ausgabe und schließlich ein instruktives und umfassendes Nachwort des Politikwissenschaftlers Helmut König. Vielen ging damals Arendts Kritik an den Deutschen viel zu weit; Golo Mann hielt ihre Äußerungen zum Widerstand »für die empörendsten Verleumdungen, die je über diese Bewegung verbreitet wurden.« Doch König stellt klar: »Die so sorgenvoll den schädlichen Einfluss des Buches in der Bundesrepublik befürchteten, übersahen in ihrem Eifer, was kaum zu übersehen ist, dass nämlich »Eichmann in Jerusalem« eine ganze Reihe von Passagen enthält, in denen Arendt die skandalöse Selbstgefälligkeit der Deutschen im Umgang mit der verbrecherischen Vergangenheit und den NS-Mördern mit großer Empörung und Vehemenz attackiert.«
Im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit der totalen Herrschaft des Nationalsozialismus und ihren Tätern wie Eichmann kommt noch etwas hinzu, schreibt Helmut König: »Ironie und Lachen sind wie nichts anderes dazu angetan, alle Versuche und Versuchungen zu unterlaufen, der Nazi-Herrschaft und ihren Protagonisten irgendeine Form von Größe zuzuerkennen. Es gibt kein besseres Mittel als die Ironie, um all diese aufgeblasenen Anmaßungen der NS-Verbrecherbande, die unbedingt als Größen in die Weltgeschichte eingehen wollten, zu destruieren.« Ihre Ironie und das Lachen, das man ihr nicht nur in Deutschland vorwarf, waren Ausdruck ihrer Souveränität, ein Element unabhängigen Denkens. Hannah Arendts Buch, um ein Wort des Philosophen Hans Blumenberg zu zitieren, besticht durch seinen »Rigorismus der Wahrheit«.
Titelangaben
Klaus Holz / Thomas Haury: Antisemitismus gegen Israel
Hamburger Edition, Hamburg 2021
424 Seiten, 35 Euro
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Saul Friedländer / Norbert Frei / Sybille Steinbacher / Dan Diner / Jürgen Habermas: Ein Verbrechen ohne Namen
Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust
Verlag C.H.Beck, München 2022
90 Seiten, 12,00 EUR
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Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen
Herausgegeben von: Thomas Meyer
Übersetzt von: Brigitte Granzow
Piper Verlag, München 2022
560 Seiten, 16 Euro
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