Reise in die Vergangenheit

Sachbuch | Atlas der vergessenen Orte

Atlanten haben etwas Abenteuerliches: Man geht auf Reisen, ohne wegzufahren, man umrundet den Globus, ohne selbst zu fliegen, man erkundet zum Beispiel kulturelle, politische, geografische oder historische Welten. Genau dazu lädt dieses geschmackvoll aufgemachte Buch ein. BARBARA WEGMANN

Sie werden nicht mehr besucht, haben keine Funktion mehr, stehen leer, Gemäuer berichten aus längst vergangenen Tagen, erzählen von einstigem Leben, früherem Glanz und erloschener Bedeutung. 40 solcher Orte, egal ob es ein Schloss, eine U- Bahn-Station, ein ehemals prunkvolles Hotel, eine Wüstenstadt oder ein »überwucherter Vergnügungspark« ist, präsentiert Travis Elborough in einem wunderschönen Lese- und Fotobuch. 40 Ausflüge in die Vergangenheit rund um den Erdball.

Da ist zum Beispiel das einst in Polen geplante Kernkraftwerk, das erste, das heute eine Ruine aus Rost und bröckelndem Gemäuer ist. Die gigantische Summe von 500 Millionen Dollar hatten Projekt und begonnener Bau bereits gekostet, bis ein Weiterbau durch Proteste gestoppt wurde. Tschernobyl und die Auswirkungen hatten damals die Regie übernommen.

Wenn man durch das Buch blättert, wird man nicht nur mit den Fotos der »Verlassenen Orte« konfrontiert; es ist die Geschichte, die, jeweils eine oder zwei Seiten lang, den Orten noch einmal Leben einhaucht.

Schon von seiner Lage her war auch bereits zu Baubeginn das Grand Hôtel de la Forêt in Vizzafona, hoch auf der Insel Korsika abgelegen und etwas für damalige Zeit sicher sehr Besonderes und auch Exklusives. Um dem aufkommenden Tourismus etwas zu bieten, steckte man Ende des 19. Jahrhunderts viel Energie in den Bau von Eisenbahnlinien, Tunneln, Brücken und Viadukten und Dämmen. 1893 war die Strecke bis Vizzafona fertig und gleich in der Nähe ein Hotel vom Feinsten, das »dem Geschmack anspruchsvoller Gäste entsprach«. Tennisplatz, Kaminfeuer, Ballsaal, Schlittschuhbahn, das alles in »romantischer«, alpenähnlicher Lage.

Dann aber kam erst die unschlagbare Konkurrenz der Riviera als Urlaubsziel Anfang der 1920er Jahre und anschließend im Zweiten Weltkrieg die Besetzung der Insel. Heute ist das Haus, wie die Fotos dokumentieren, ein »pittoresker Anblick«. Wie schade für ein Haus, in dem die Ballklänge von einst immer noch ein Echo zu haben scheinen.

Da ist ein ganzer Vergnügungspark in Großbritannien, verlassene Krankenhäuser und Anstalten in Amerika, und da ist eine ganze Bergbau-Siedlung, ausgestorben, längst verlassen, die aber heute immer mehr Touristen anzieht, »da sich die Möglichkeit bietet, die verlassenen Artefakte einer früheren Lebensweise zu bestaunen.« Es war einst eine russische Siedlung auf der kleinen Insel Pyramiden, die zu Spitzbergen gehört und der Kohleabbau hatte den Standort attraktiv gemacht. Aber auch hier sind es wirtschaftliche Veränderungen, die zur Aufgabe führten.

Manchmal sind verlassene Orte aber auch Mahnmale, so, wie die winzig kleine Insel Akampene in Uganda, auf die bis weit ins 20. Jahrhundert Mädchen lebenslang verbannt wurden, die »Schande über ihre Familien gebracht hatten«. Für sie gab es auf dem kleinen Eiland keine Rettung. Durch den steigenden Wasserspiegel wird das kleine Eiland irgendwann verschwinden, aber: »Im Moment ist die ›Insel der Bestrafung‹ noch eine Art Erinnerungsstück, das dank seiner Lage auf den Touristenrouten dafür sorgt, dass die Geschichten der Frauen die so brutal behandelt wurden … weiterhin erzählt werden.«
Es sind die Details rund um »vergessene Orte«, die aus schlichten Koordinaten eine dreidimensionale Geschichte werden lassen.

Elborough will nicht nur diese Orte, Plätze, Stätten vorstellen, ihnen für den Moment weniger Seiten noch einmal Leben einhauchen. Sein Anliegen geht über das rein Abbildende weit hinaus, und da wird es spannend: schon geringfügige Veränderungen in Handel, Politik, Klima, Gesundheitswesen, Bräuchen oder auch Fahrgastzahlen ließen, so schreibt der Autor und Journalist, Orte überflüssig und nutzlos werden. Diese Tatsache, so Elborough, mache das Kartieren so wichtig, denn aus den Geschichten könne man eine Menge lernen: »über Unbeständigkeit, Konsum, Booms und Pleiten, Industrialisierung und Umwelt, die menschliche Hybris und die Unzuverlässigkeit der Erinnerung und deren Pflege.«

Jede der 40 Geschichten lohnt die Lektüre und beeindruckt durch das dahinterliegende Schicksal. Jeder der »Vergessenen Orte« ist eingebettet in eine individuelle Historie und macht sie so zu bemerkenswerten Kapiteln eines ausgefallenen Buches.

Was man als Leser zum Schluss des Buches empfindet, fasst der Autor wunderbar zusammen: »Verlassenheit ist aber kein Grund, die Hoffnung aufzugeben. Im Gegenteil: Sie ermutigt uns, länger und intensiver über die Welt der Zukunft nachzudenken und über Dinge, die es verdienen, vor dem Verfall bewahrt zu werden.«

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Travis Elborough: Atlas der vergessenen Orte
Karten von Martin Brown
München: Prestel Verlag 2022
208 Seiten, 30 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gut informierter Optimist

Nächster Artikel

Antisemitismus der Gegenwart und die Erinnerung an den Holocaust

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Öffentliche Debatte! Bitte!

Gesellschaft | Geraldine Edel: Ideologie der Technologie Die Materie ist vielschichtig, und jeder tut sich schwer, den ökonomischen und gesellschaftlichen Beitrag der Internettechnologie einzuschätzen. Gewinn? Für wen? Für unsere heißgeliebten Teenies, die ihre Smartphones gern aus dem Säckel der Eltern begleichen und ihre Wochenenden in den ›sozialen‹ Medien verpulvern? Von WOLF SENFF

5000 Jahre Medizingeschichte

Sachbuch | Medizin. Die visuelle Geschichte der Heilkunst

Mit der Covid-Pandemie endet aktuell dieses spannende Buch und es beginnt mit einem Blick in die Zeit vor mehreren Tausend Jahren. Zeiten, zu denen es Dr. Google noch nicht gab, dafür aber den weitverbreiteten Glauben an Geister, Dämonen, an Magie und Hexerei. Von BARBARA WEGMANN

Der klassische Philosoph der Moderne

Lesenswerte neue Bücher zum 300. Geburtstag Immanuel Kants

In seinem Essay ›Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‹ schreibt Heinrich Heine: »Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte.« Doch Kants Leben ist mit seiner philosophischen Entwicklung verwoben und verdient unsere Aufmerksamkeit, wenn man die Geschichte der Aufklärung und die Entwicklung der politischen Ereignisse wirklich verstehen will. Der Frankfurter Professor für Philosophie der Neuzeit Marcus Willaschek hat anlässlich des 300. Geburtstags des Philosophen ein beeindruckendes Buch mit dem Titel ›Kant – Die Revolution des Denkens‹ geschrieben. Das Buch ist nach Sachthemen geordnet und umfasst 30 in sich geschlossene Essays durch das gesamte Werk des Königsberger Philosophen. Die einzelnen Kapitel verweisen zwar aufeinander, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden. In jedem Kapitel werden die einzelnen Abschnitte von Kants Leben mit seinem Denken verknüpft. Der Autor möchte mit seinem exzellenten Buch Leserinnen und Leser erreichen, die über nur wenige oder keine Vorkenntnisse der Philosophie verfügen, es ist aber auch für Kenner durchaus von Nutzen. Von DIETER KALTWASSSER

Eiskalte Leidenschaften

Sachbuch | S.Sandberg, A.Bache: Polarliebe

»Wenn ich nicht mit dir an den Nordpol reisen darf, dann sterbe ich…!« So feurige Worte einer Frau für einen Mann, der als Erster Grönland durchquert und Ende des 19. Jahrhunderts dem Nordpol so nahe sein wird, wie kein anderer Forscher dieser Zeit. Fridtjof Nansen, Ozeanograph, Polarforscher und später Friedensnobelpreisträger. Und wer war diese Frau? Eva Sars, eine damals bekannte norwegische Opernsängerin. Nun, mitgefahren ist sie nicht, aber gestorben ist sie auch erst Jahre später. Es ist eine dieser neun wunderbar zu lesenden Geschichten zwischen Pol und Herz, von denen BARBARA WEGMANN begeistert ist.

Kondo dich glücklich!

Sachbuch | Marie Kondo: Das große Magic Cleaning Buch

Seit sie jung war, störte sich die japanische Autorin Marie Kondo an dem visuellen Grundrauschen um sie herum. Rauschen ist, wenn alles drin ist und zugleich nichts erkennbar. Es ist so viel, dass man nicht mehr das Unwichtige vom Wichtigen unterscheiden kann. Damals hat Kondo begonnen aufzuräumen, um dieses aus ungetragener Kleidung, ungelesenen Büchern und tausend kleinen Dingen bestehende Grundrauschen zu beseitigen. So entstand zuerst ein Coaching, dann Bücher und zuletzt die Streamingserie »Aufräumen mit Marie Kondo«.
Der Zauber von Kondos Ansatz besteht nicht im Aufräumen an sich, sondern darin, sichtbar zu machen, was einem wichtig ist. Ob diese Haltung alleine mit dem Buch »Das große Magic Cleaning Buch« vermittelbar ist? Fragt BASTIAN BUCHTALEK