Dieses Buch verbesserte meinen Sex (und meine Beziehungen)

Sachbuch | Estupinya, Pere: Sex – Die ganze Wahrheit

Man könnte meinen, in unserer sexualisierten Gesellschaft mit der sehr freizügigen Werbung, fast überall zugänglichem Porno und Zeitschriften, die alles – wirklich alles – erklären, sei ein theoretisches Werk über Sex überflüssig. Wozu in einem Sachbuch etwas lesen, was man in allen Varianten sehen oder erleben kann? Wieso sollte man sich die Zeit nehmen, um das rund 500 Seiten dicke Buch ›Sex – Die ganze Wahrheit‹ zu lesen, fragt BASTIAN BUCHTALECK?

Sex ist normal

Zerknüllte BettlakenDer Wissenschaftsjournalist Pere Estupinya hat mit großer Neugierde und großem Forscherdrang die ganze Wahrheit über Sex in einem Buch zusammengefasst. Er hat dafür viele verschiedene Orte und Menschen aufgesucht, um sie zu ihrer Sexualität zu befragen. Dabei stellte Estupinya fest, es gibt so viele Abweichungen von der Norm, dass die Ausnahmen ebenso normal sind wie Monogamie, Knutschen und Kuschelsex. Die Angst, die eigene Sexualität sei nicht normal, ist demnach unbegründet.

Normal ist nicht, was die Mehrheit tut. Normal ist, was sehr viele Menschen tun. Für fast alle Spielarten und Fetische lassen sich längst genug Menschen finden, die das gut finden. Schuhe lecken? Fesselspiele? Transgender, morgens Mann, abends Frau? Auch wenn die relativen Prozentzahlen gering sind, die absoluten Zahlen sind groß genug, um Normalität für sich einfordern zu können – was Estupinya mit vielen Anekdoten und Kuriositäten immer wieder eindrücklich schildert.

Sex ist bio-psycho-sozial – ergo: vielschichtig

Darum ist dieses Buch absolut notwendig. Umfassend, umsichtig und undogmatisch präsentiert Estupinya alles, was die moderne Wissenschaft bislang zum Thema Sex herausgefunden hat und das in einem sehr ansprechenden Schreibstil.

Er zitiert in seinem Buch experimentell gewonnene und methodisch gesicherte Daten aus der Biologie, der Chemie, den Neurowissenschaften, der Psychologie und er berücksichtigt dabei die natürliche Selektion durch die Evolution, sein Ansatz ist multidisziplinär. Er selbst bezeichnet ihn als bio-psycho-sozialen Ansatz, also als eine Mischung aus biologischen (Herkunft, Gene), psychologischen (wer bin ich) und sozialen (Erziehung, Gesellschaft) Erkenntnissen und er ist damit wohl schon sehr nahe an der Wahrheit, zumindest deutlich näher als alles, was es zuvor zu lesen gab.

Konservative Sexologie

Bei seiner Recherche wandte Estupinya sich zuerst an den Wissenschaftszweig, der sich ganz dem Sex verschrieben hat. Die Sexologie ist laut dem Journalisten eine sehr konservative Forschungsrichtung. Was unfreiwillig komisch anmutet. Die konservative Haltung zeigt sich darin, dass die Sexologie weder multidisziplinär arbeitet, noch Tabuthemen angeht oder Randgruppen erfasst. Am liebsten sei die Sexologie heteronormativ, stellte Estupinya fest.

Estupina hat gemacht, was die Wissenschaft ausließ. Er hat mit Asexuellen gesprochen, Polyamoröse begleitet und mit Fetischisten Partys besucht. Er hat auch mit Transsexuellen, Tantrikern, Behinderten und vielen weiteren Gespräche geführt. Er hat keine Situation gescheut, auch solche nicht, die ihm persönlich unangenehm waren. Das ist auf jeden Fall ein Wert des Buchs. Es schaut wirklich auf alle Aspekte und wendet den Blick nie angewidert ab.

Warum wir überhaupt so viel Sex haben!

Bei all der Vielfalt konnte Estupinya eine Gemeinsamkeit feststellen. Im Vergleich zu nahezu allen anderen Tierarten hat der Mensch viel Sex. Beinahe beliebig viel. Der Mensch hat Sex nicht nur zur Fortpflanzung, sondern auch schlicht zum Vergnügen.

Im Tierreich ist es so (und wie man weiß, ist der Mensch auch nur ein besonderes Tier), dass die Weibchen ihre Fruchtbarkeit anzeigen bzw. die jeweiligen Männchen diese wahrnehmen können. Sex außerhalb der Fruchtbarkeit ist in der Natur kaum vorgesehen. Estupina erklärt dies evolutionsbiologisch. Sex kostet Energie und Energie ist kostbar. Also wird Sex außerhalb der Fruchtbarkeit nicht verschleudert.

Beim Menschen ist die Aufzucht des Nachwuchses derart zeit- und energieintensiv, dass es für die Weibchen sehr wichtig ist, auch die Männchen daran zu beteiligen. Männchen beteiligen sich dann, wenn sie davon ausgehen, dass der Nachwuchs ihr eigener ist. Sobald die Männchen nicht wissen, wann das Weibchen fruchtbar ist, bleiben sie in der Nähe des Weibchens, um es mehrfach zu begatten. Aus diesem Grund – so Estupina – hat es sich bei uns Menschen entwickelt, wie es sich entwickelt hat.

Dank Dopamin gehören Sex und Liebe zusammen

Heutzutage hat Gelegenheitssex zugenommen, Online-Plattformen tragen ihren Teil dazu bei. Beides ist durch Studien belegt. Dennoch würde die Mehrzahl aller Menschen, laut diesen und anderen Studien, eine klassische Liebesbeziehung dem Gelegenheitssex vorziehen. Warum eigentlich?

In dem kurzen Kapitel »Süchtig nach Liebe« erklärt Estupina, wieso die romantische Liebe eine instinktive Notwendigkeit ist; warum Sex und Liebe zusammengehören. Das Lustzentrum des Gehirns, auch Belohnungszentrum genannt, schüttet Dopamin aus, wenn dem Körper etwas Gutes getan wird. Drogen tun das. Verliebt man sich, wird sehr viel Dopamin ausgeschüttet und gleichzeitig sind Areale im Hirn aktiv, die für Wahrnehmung, Erinnerung und Lernen stehen. Man wird süchtig nach der Person, die für Lust und Freude steht. Darum verlieben wir uns – in die Droge Liebe.

Während Dopamin das »high« auslöst, sorgt das Hormon Oxytocin, welches nach dem Orgasmus ausgeschüttet wird, für Entspannung und Wohlbefinden. Auf diese Weise verwandelt sich die Sucht »Verliebtheit« in die ruhigere und tiefere Liebe. In diesem Zusammenhang warnt Estupinya vor zu vielen leidenschaftslosen Orgasmen. Diese Falle nennt er »eheliche Langeweile«. Die Partner lieben sich noch, begehren sich aber nicht mehr.

Dopamin- und Oxytocinwerte sollten beide beachtet werden

Die Oxytocinfalle lässt sich vermeiden, indem man sich als Paar immer wieder bewusst um das Dopamin kümmert. Estupina rät auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse: »Bemüht euch immer, die mit dieser Person verknüpften Dopaminwerte schön hoch zu halten, sei es mit Sex oder anderen Vergnügungen.« Wer also weiterhin gemeinsam aktiv ist, Unternehmungen macht, der hat eine höhere Chance auf eine glückliche Ehe. »Konflikte zu vermeiden reicht allein nicht aus. Tatsächlich ist es besser, ihnen mit Streit oder Sex zu begegnen, als sie zu verstecken und in einen Zustand mittelmäßiger Ruhe zu verfallen. Ohne Emotion hat die romantische Liebe keinen Bestand, es bleibt nur geschwisterliche oder freundschaftliche Zuneigung.« So einfach, so klar.

Aus gesundheitlicher Sicht ist regelmäßiger Sex ohnehin zu empfehlen: »Sex ist gesund, allerdings eher auf psychischer als auf körperlicher Ebene. Er verbessert das Selbstwertgefühl, stärkt die Paarbeziehung, trägt zu unserem Wohlbefinden bei und dazu, dass wir uns energiegeladener fühlen, und bringt unsere psychische Gesundheit ins Gleichgewicht. Und all das hat auch körperliche Auswirkungen, Körper und Seele werden gestärkt. Aber eigentlich sollte unsere Motivation nicht sein, Sex für eine bessere Gesundheit zu haben, sondern gesund zu sein, um guten Sex zu haben.« (Seite 321) So einfach, so klar.

Fazit

›Sex – Die ganze Wahrheit‹ ist ein ungeheuer befriedigendes Buch, denn man hat nach der Lektüre das Gefühl, mehr über Sex zu wissen und uns Menschen und unser Verhalten deutlich besser zu verstehen. Somit sind die rund 500 Seiten des Journalisten Estupinya das mit beste und umfassendste, sachlichste und lustigste, was man über die menschliche Sexualität lesen kann. Grandios! Zuletzt bleibt ein Satz von ausdrücklicher Wucht hängen, dessen Wahrheit man sich öfters vor Augen führen sollte. »Das Gegenteil von Liebe, sagt man, sei nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.«

| BASTIAN BUCHTALECK

Titelangaben
Estupinya, Pere: Sex – Die ganze Wahrheit
München: Riemann Verlag 2014
500 Seiten

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