Der Südseethriller ›Pacifiction‹ des katalanischen Filmemachers Albert Serra ist ein psychedelischer Bilderrausch – unheimlich, verführerisch, dekadent, von rätselhafter perverser Sinnlichkeit und beklemmender Aktualität. Von SABINE MATTHES
Ein weißer Mercedes mit Diplomatenkennzeichen streift durch die tropische, schwüle, smaragdgrüne Nacht. Gelb leuchten die Scheinwerfer, wie Raubkatzenaugen. Die majestätische Eleganz kündet vom erschöpften kolonialen Herrschaftsanspruch, Kontrolle und Ordnung zu wahren, die zunehmend ins Wanken geraten. Es ist die fahrende Residenz von de Roller – Hochkommissar der Französischen Republik auf der Insel Tahiti in Französisch-Polynesien. Mit jovialer Lässigkeit und etwas zu eng sitzendem weißen Anzug will er stets am Puls der Einheimischen sein – zwischen offiziellen Empfängen und zwielichtigem Nachtclub. Denn plötzlich geistert ein unheimliches U-Boot um die Insel und mit ihm das Gerücht einer Wiederaufnahme der französischen Atomtests – wogegen der Einheimischen-Anführer Matahi bereits Widerstand und Rebellion ankündigt.
Die feuchte Hitze wirkt wie ein Aphrodisiakum. Sie treibt Schweißperlen auf Gesichter und Kameralinsen, lässt die Realität verschwimmen zu einem wogenden Meer changierender Halluzinationen, psychedelischer Bilder und phosphoreszierender Farben. Paranoia beherrscht zunehmend die Insel – vor allem Hochkommissar de Roller. Auf der nächtlichen Veranda trifft er den dubiosen französischen Admiral, der kürzlich mit seinen Marines gelandet war, und will ihm seine Pläne und Auftraggeber entlocken. Was steckt hinter den Gerüchten? Womöglich auch Russland, China, die USA? Bei orangefarbenen Cocktails mit rosa-roten Hibiskusblüten schildert de Roller dem Admiral die verheerenden Folgen und Erkrankungen der Inselbewohner nach den letzten Atomtests: häufiger Schilddrüsenkrebs und Leukämie, einer Frau mussten beide Brüste amputiert werden. Er warnt den Admiral: »Ich glaube, es würde sie wütend machen, wenn wir es wieder täten.« Der beschwichtigt mit einem süffisanten Lächeln, das nicht beruhigen kann: »Seien Sie frohgemut, alles wird in Ordnung sein«.
Währenddessen, auf dem Balkon über ihnen, wiegt eine einheimische DJ ihre bloßen Brüste zur Housemusic. Und am türkis-schimmernden Swimmingpool nebenan treibt ein einheimisches Paar seinen bizarren Liebestanz – der fette Tahitianer, mit Blütenkranz auf der Glatze, bringt seine Gespielin zu lustvoller Ekstase, mit einem Würgegriff, wie eine Anakonda. Weiße Meeresgischt, donnernde Wellen und prasselnder Regen – Naturgewalten durchzucken die Nacht. De Roller sinniert in seinem Mercedes: »Politik ist wie ein Nachtclub. Es ist eine Party mit dem Teufel. Sie denken, sie seien die Herren, dabei kontrollieren sie nichts. Selbst ich habe nichts unter Kontrolle.«
Eine faszinierende Atmosphäre lasziver Spannung, perverser Sinnlichkeit, verwirrender Ambiguität und latenter Homoerotik durchzieht den Film – der Sog ist ein Trip und dauert fast drei Stunden lang. Die Bilder sind so irreal unheimlich schön, als müssten sie mit der monströsen perversen Schönheit eines Atompilzes wetteifern. De Roller nimmt sich die geheimnisvolle Shannah unterstützend zur Seite – als Muse, Begleiterin und Spionin. »Du wirst mein Auge sein, mein Arm, mein Schwertarm. Du bist eine Löwin, ein Raubtier, Du wirst sie alle fressen«, dichtet er für sie. Sie soll mit ihren Verführungskünsten die Rätsel lösen helfen: wer ist der Portugiese mit der seltsamen Schlafkrankheit, wer stahl seinen Diplomatenpass? Wer sind die Investoren, die das verfallene Hotel herrichten wollen, das auf einem Friedhof erbaut wurde und deswegen doch nur Unglück bringen kann? Wer installiert die vielen Flutlichter auf der Insel, und wozu? Shannah ist trans oder »mahu«, wie das dritte Geschlecht der Polynesier heißt. Die Mahu sind ein polynesisches Sozialphänomen und gehen auf eine jahrhundertealte Tradition zurück. Bemerken Eltern einen unerwarteten Hauch von Weiblichkeit in einem Sohn, oder haben bereits zu viele Jungen, wird er wie eine Tochter behandelt, um die weibliche Rolle im Haushalt zu übernehmen.
Die sanfte Exzentrizität der Mahu verzauberte bereits Paul Gauguin und inspirierte seine Bilder. Von den 1960er bis in die 1990er Jahre arbeiteten sie auf den Nuklear-Stützpunkten der Franzosen und zogen nach deren Abzug nach Papeete auf Tahiti. Sie sind stolz auf ihre Vermittlerrolle zwischen männlicher Brutalität und süßer Weiblichkeit, arbeiten in Hotels und Kultur, sind bisexuell. Shannah ist ein zweifelhafter Gesell, intrigant und streut Gerüchte, de Rollers Sekretärin würde für fremde Mächte arbeiten. Sie begleitet de Roller in den »Paradise« Nachtclub und zur Probe eines Hahnenkampf-Tanzes. »Es ist barbarisch! Superb! Phantastisch! Es ist schön solche Gewalt zu sehen«, feuert de Roller die Trommler und Tänzer an. Als bräuchte man in der unwirklichen Schönheit des Paradieses – inmitten des silbern gleißenden Lichts und endloser Schattierungen von Dschungelgrün, Ozeanblau und Himmelrot – einen Peitschenhieb Gewalt, um sich lebendig zu fühlen.
In somnambuler Trance scheint auch der Admiral, immer in Uniform und leicht berauscht. Man weis nicht, ob vom Alkohol, den Drogen (»aber nur an Land!«), jungen Männern oder dem eigenen Größenwahn. Glücklich, im Kreis seiner muskulösen Marines, geniest er den »Paradise« Nachtclub und flirtet mit einheimischen Go-go-Tänzern – als hätte er sich in Fassbinders »Querelle« verirrt oder einen queeren Kenneth Anger Film. Es gibt keine Beweise, auch wenn de Roller mit dem Fernglas den Horizont nach Verdächtigem absucht. Aber die Worte des Admirals sind unheilschwanger: »Wenn sie sehen, was wir unseren eigenen Leuten antun können, werden sie keine Zweifel mehr haben, was wir anderen antun können.« Er fragt den Einheimischen-Anführer Matahi: »Was würden Sie gegen all die Terroristen tun?« – »In Polynesien haben wir keine Feinde. Macht der Alkohol Sie paranoid?« erwidert Matahi. Der Admiral tanzt selbstverloren vor dem Wandbild eines feuerspeienden Vulkans, in Zeitlupe und blauem Schwarzlicht. Im Morgengrauen verlässt er mit seinen Matrosen die Insel, peitscht im wellenumtosten Boot an den nachtschwarzen Palmenhängen vorbei, in das aufflammende fiebrig-rosa-lila-orange glühende Morgenrot, delirierend wie ein kleiner Napoleon schwört er seine Mannschaft ein: »Gebt alles auf, was Euch hier hält, wir werden nicht zurückkommen.« Das Boot zieht eine Spur blutrot fauchender Gischt. Ist es der Auftakt zum Ende der Welt? Oder das Erwachen aus einem nächtlichen Traum?
Unter der sanften, zwielichtigen Dekadenz von Serras ›Pacifiction‹ lauert und gärt stets der bildgewaltige Wahnsinn von Coppolas ›Apocalypse Now‹ – mit den legendären letzten Worten »Drop the bomb« – »The horror. The horror« – »Das Grauen. Das Grauen«. Albert Serras Horror verweist auf die Franzosen, die von 1966 bis 1996 auf dem Südsee-Atoll Mururoa – in der Landessprache »großes Geheimnis« – fast 200 unter- und überirdische Atombomben zündeten. Gewaltige fluoreszierende Pilzwolken brachten den Stillen Ozean zum Beben, lösten Erdrutsche, Tsunami, radioaktiven Regen, 500-fach überhöhte Plutoniumgrenzwerte, durch die Luft schleudernde Lastwagen, verbrannte Palmenwälder, mit toten Fischen übersäte Böden, bis nach Südamerika verseuchtes Wasser und exorbitant hohe Krebsraten aus, selbst Hunderte Kilometer entfernt. 1974 kam es über Tahiti, 1.200 Kilometer von Mururoa entfernt, zwei Tage lang zu Fallouts, 1995 gab es gegen eine weitere Testserie schwere Unruhen auf Tahiti. Generationen von Tahitianern wurden durch die Atomversuche umgebracht. Mururoa ist bis heute Sperrgebiet, eine riesige Atommüllhalde in 140 Bohrschächten, ein Tschernobyl unter Wasser, verstrahltes todbringendes Gebiet für 100.000 Jahre.
Als Albert Serra seinen grandiosen Film ›Pacifiction‹ letzten Sommer beim Filmfest von Cannes uraufführte und beim Münchner Filmfest vorstellte, hatte er völlig unerwartet beklemmende Aktualität erlangt. Wurde zur Metapher unseres eigenen Seelenzustands, unserer Verletzlichkeit und Paranoia angesichts der unberechenbaren Folgen des russisch-ukrainischen Krieges, samt seines bedrohlichen atomaren Eskalationspotenzials. Kriegsrhetorik war plötzlich en vogue und diffuse Orwell`sche Neusprech-Slogans wie »Krieg ist Frieden«, skurrile Polit-Inszenierungen und ein omnipräsenter Schauspieler versetzten uns in Hypnose, als würden wir wie Statisten zwangsrekrutiert zu einem unwirklich realen Remake von Stanley Kubricks »Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben«. Für Albert Serra ist bereits das nukleare Thema an sich so mysteriös, da es kaum einer versteht. Die Faszination für das Mysteriöse, Nochniegesehene teilt er mit den Surrealisten. Das von Salvador Dali entwickelte kreative Werkzeug der Surrealisten – die »paranoisch-kritische Methode«: Das irrationale Wissen, basierend auf einem Delirium der Interpretation – wurde dem Katalanen Albert Serra quasi in die Wiege gelegt. Serra wurde 1975 in der Nähe von Dalis Heimatort Figueres geboren, wo Dali mit Bunuel ›Un chien andalou‹ drehte, und sagt, dass er von der surrealistisch-dadaistischen Haltung beeinflusst sei.
Als Serra mit seiner Film Crew nach Tahiti kam, war für die Hälfte der 25 Drehtage COVID-Lockdown – aber da sie drehen durften, hatten sie die ganze Insel für sich. Wie eine Geisterinsel ohne reale Menschen, mit völlig leeren Stränden und Strassen. »Das half, die Paranoia zu steigern, aber es war vielleicht die größte Herausforderung, die richtige Balance zu finden, denn wenn es zu viel von Nichts gibt, kann es wie zu viel Dekor sein. Aber wenn es zu viel Realismus gibt, ist es vulgär.« Hauptdarsteller ist die atemberaubende Szenerie – exotisch, dekorativ und künstlich. »Of course I like the colonialist subject of the film because I`m also a little bit pervert«, sagt Serra. Er liebt es wild, verrückt und trashig. Filmt chaotisch – immer mit drei kleinen Kameras und Zoomlinsen, konzentriert sich auf den formalen Aspekt, die Kraft der Bilder. Der Hauptdarsteller soll die Kontrolle über sein Image verlieren, um ihn verletzbar zu machen und eine neue Unschuld hervorzuzaubern. De Roller – gespielt von Benoit Magimel – wurde sein Text über Kopfhörer ins Ohr zugeflüstert, er kannte vorher nicht das Skript und die Dialoge, musste improvisieren. Er agiert wie fremdbestimmt, was die somnambule Sinnlichkeit und wachsende Paranoia erhöht.
Am Ende hatte Serra »this crazy, unpredictable 540 hours of shooting«. Er macht eine schnelle Durchsicht, schreibt auf, welche rote Farbe hier oder welcher Satz da und welches Licht ihm gefällt, dann muss sein Team ein organisches Ganzes aus seinen Puzzelteilen machen. ›Pacifiction‹ ist kein soziales Portrait der Insel, sagt Albert Serra, »it`s a phantasy, it´s a pacifiction, a fiction of the pacific, it`s a totally abstract and insanely superficial world, that`s in the mind, it`s quiet coherent with the idea of the paranoia of the main character. The film is not about the world as it is, but about the perception of the world, which is quite different.«
Titelangaben
Pacifiction
Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022
Regie und Buch: Albert Serra
Kamera: Artur Tort
Mit Benoit Magimel, Pahoa Mahagafanau,
Sergi Lopez, Marc Susini, Matahi Pambrun