Der englische Titel ›A One and a Two‹ klingt ein wenig nach den Zahlenspielereien Peter Greenaways und der chinesische nach einem »Ja Ja«. Nichts davon stimmt. Der jüngste Film des 1947 in Shanghai zwar geborenen, aber in Taiwan aufgewachsenen Edward Yang ist ein aufgeblättertes Familien-Album vielfacher Gleichzeitigkeiten im heutigen Taipeh. Von WOLFRAM SCHÜTTE
Im Gegensatz zu Ettore Scolas ›La famiglia‹ (1987), in dessen beherrschendem Mittelpunkt der Patriarch (Vittorio Gassman) stand, um den der Rest der Familie kreiselte und kriselte, wahrt der taiwanesische Regisseur und Drehbuchautor ein empfindliches Gleichgewicht zwischen den Mitgliedern der Jian-Familie.
Der Patriarch fehlt, nur die Großmutter kommt noch aus der alten Zeit. Ihr Schlaganfall nach der Hochzeit ihres Sohnes A-Di, der seine langjährige Verlobte verstoßen hatte und seine schwangere Geliebte heiratet, überschattet den fragilen Familienfrieden. Ohnehin war der Hochzeitstag astrologisch falsch gewählt, und die Ehe, die seine Schwester Min-Min mit NJ führt, ist auch an einem Nullpunkt angelangt, was sowohl deren 15jährige Tochter als auch der achtjährige Yang Yang bemerken.
Im Koma wird die Großmutter in die ohnehin beengte Hochhauswohnung der zerfallenden Mittelstandsfamilie gebracht, mit dem ärztlichen Rat, den schlafenden Leichnam mit liebevollen Erzählungen wieder ins Leben zurückzurufen. Für ihre Tochter Min-Min wird diese Sorgepflicht jedoch zur Erkenntnis ihrer eigenen Lage: eines sinn-& lieblosen Lebens. Sie verlässt Mann und Kinder und geht in ein Kloster.
Aber auch die Computerfirma, die ihr Mann und ihr Bruder führen, ist in der Krise. Sie droht, angesichts der globalen Konkurrenz, in Konkurs zu gehen, sodass man Ausschau hält nach potenten Partnern in Japan. Und dann trifft der apathische Strohwitwer NJ auch noch zufällig seine erste Liebe, Sherry, die mittlerweile mit einem Amerikaner verheiratet ist – und über seinen Schwager erneut Kontakt zu ihrem Jugendfreund sucht.
Viel Erzählstoff, eine Fülle von Konflikten, eine Versammlung von jeweils persönlichen Geheimnissen – erst recht, wenn man noch hinzufügen muss, dass auch die 15jährige Tochter erste Liebeserfahrungen sucht und der kleine Yang Yang, den sie in der Schule hänseln, seine ganz eigenen Wege geht – philosophische gewissermaßen. Nie könne jemand sich von hinten sehen, erklärt er seinem Vater, und als der ihm eine Kamera schenkt, filmt Yang Yang nur Wände, Decken, Hauswinkel und – Hinterköpfe. Zwischen der stationären Großmutter und dem mobilen Enkel bewegt sich die Erzählung Edward Yangs. Sie sind deren A & O: Katalysator der familiären Lebenskrise und deren fortlaufender Kommentar.
Das ist eine höchst gelungene dramaturgische Konstellation des Drehbuchautors Yang, weil sie ihm als Regisseur gewissermaßen den Rahmen gibt, in den er die parallel, also zeitgleich verlaufenden Lebensgeschichten einfassen kann, ohne aus dem Rahmen seines fast dreistündigen (!) Familienepos zu fallen. Es ist in jedem Augenblick fesselnd, weil unvorhersehbar: manchmal bitter, häufiger melancholisch und nicht selten komisch – und nimmt uns dabei mit auf eine berührende Reise durch die Zeitalter der Liebe quer durch die Generationen und ihres (Liebes-)Verrats, ihres Verlöschens und ihres Wieder(er)findens.
Die Liebe, von der Edward Yang in der taiwanesischen Moderne erzählt, umfasst die gesamte Gefühlsskala einer Hochkultur, in der persönliche Würde auch noch ein Wert der Menschlichkeit ist, die jedoch schon erodiert durch die Brutalität des schnellen Geschäfts. Deshalb sind jene Szenen, in denen NJ, als unterlegener Geschäftsführer, mit einem japanischen Interessenten über eine Kooperation verhandelt und beide sich dabei als sensible, kultivierte Menschen »erkennen«, integraler Teil der Bestandsaufnahme, die Edward Yang hier am Beispiel einer Familie über den Zustand der zwischenmenschlichen Beziehungen unter dem Einfluss der Ökonomie erzählerisch unternimmt. Aber mit unseren literarischen Begriffen zu sprechen: hier wird eher mit Tschechows als mit Balzacs Methode gearbeitet, also diskret und nicht plakativ; und wenn uns die liebevolle Menschendarstellung Edward Yangs und die subtile Art, ihnen auf Distanz und in streng komponierten Einstellungen doch intim nahe zu sein, an einen europäischen Geistes- & Gefühlsverwandten aufs Verblüffendste erinnert, so ist es der reife Fassbinder. Wie bei ihm sind hier Darstellung, Licht, Musik, Kadrage und Montage eine unlösbare Verbindung eingegangen, aus der sich die schiere Schönheit des Films ebenso ergibt, wie auch die bewundernswerte Souveränität, mit der uns Edward Yang in seinen Familien-Kosmos hineinzieht, am Schicksal seiner Personen teilnehmen und unter ihnen heimisch werden lässt.
Bedürfte es noch eines Beweises für die erzählerische Meisterschaft des Taiwanesen, so wäre sie allein schon in jener grandios einfachen Parallel-Montage zu sehen, in der er das Wiedersehen NJs mit seiner Jugendfreundin Sherry in Japan und den ersten Versuch einer sexuellen Liebesbeziehung seiner Tochter in Taipeh ineinander montiert – eine quasi musikalische Engführung des Themas Liebe und Verzicht, wie sie zärtlicher, ja liebevoller und melancholischer noch nie filmisch komponiert wurde.
Da ist die ganze emotionale Komplexität des Melodramas vorhanden, aber zugleich – und das ist die Hohe Kunst Edward Yangs ! – ohne aufs Pedal der melodramatischen Orgel zu treten, also mit musikalischem Untermalungspathos, exaltierter Bildsymbolik oder schmerzverzerrter Mimik zu prunken und zu überwältigen.
Wer im Kino etwas »erleben« will – d. h. testen möchte, ob er noch emotionale Phantasie besitzt, die für subtile Reize empfänglich ist –, der wird in Edward Yangs ›Yi Yi‹ ein Eldorado für seine (Mit)Empfindungs-Lust finden. Glücklicherweise läuft der Film im Original mit Untertitel, man sieht ihn also nicht nur, sondern hört ihn auch: das ist das höchste Privileg, das einem gelernten Kinogänger gemacht werden kann.
Titelangaben
›Yi Yi‹
Taiwan/Japan 2000
Regie: Edward Yang
Mit: Wu Nien-jen, Elaine Jin, Issey Ogata, Kelly Lee, Jonathan Chang, Chen Hsi-sheng, Ko Su-yun, Michael Tao
Kinostart: 14. Juni 2001